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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben
Autoren: Boris Pfeiffer
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befahl:
    »Tyrai, mach ihnen Essen, ehe wir aufbrechen.«
    Rufus wandte den Kopf. Der Mann ging ans Feuer. Daneben war ein hölzerner Trog in den Waldboden eingegraben. Er war mit Wasser gefüllt. Mithilfe zweier dicker Äste zog der Mann große Steine aus den Flammen und warf sie in den Trog. Das Wasser zischte auf. Rufus sah wieder zu den Mädchen. Aber das Mondlicht war fort, und er konnte nur noch ihre schattenhaften Gestalten unter dem Baum erkennen und die ihrer Mutter, die hoch aufgerichtet vor ihnen stand.
    Ein Schmerz bohrte sich in seinen Kopf. Wieder stach ihn etwas in die Schläfe. Und auf einmal wurde alles ganz dunkel.
    Rufus stieß einen unwirschen Laut aus. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was war das? Wo war er denn nur?
    Dann schlug er die Augen auf.
    Sein Kopf lag auf einer harten Holzplatte. Und rechts und links von ihm waren keine Bäume, sondern es türmten sich mächtige Bücherstapel auf. Einige der Bände waren aufgeschlagen und die spitze Ecke eines Buchdeckels stak gefährlich nah neben seiner rechten Schläfe in die Luft. Rufus blinzelte. Jetzt verstand er. Er musste geträumt haben. Dann war er im Schlaf anscheinend gegen die Buchecke gestoßen und der Schmerz hatte ihn aufgeweckt.
    Was für ein merkwürdiger Traum.
    Vorsichtig, um die Bücherstapel nicht anzustoßen, hob Rufus den Kopf und richtete sich langsam auf.
    Durch das schmale Fenster seines Zimmers blickte er auf die im Morgenlicht liegende, verwinkelte Dächerlandschaft der Akademie. Der Akademie der Abenteuer, oder, wie sie wirklich hieß, Academia des leibhaftigen Studiums vergangener Zeiten, gegründet 1392 von den Gebrüdern Micheluzzi.
    Seit kurzer Zeit war Rufus als Lehrling hier.
    Auf einem Stuhl neben ihm lag sein mit Skizzen übersäter Zeichenblock. Rufus musterte die hohen Bücherstapel. Diesmal hatte er Glück gehabt. Erst vor drei Tagen war ihm genau das Gleiche schon einmal passiert. Er war beim Lesen an seinem Schreibtisch eingeschlafen und am nächsten Morgen mit dem Kopf inmitten der aufgetürmten Bücher aufgewacht. Dabei hatte er sich zu heftig bewegt, und einige Bände waren wie bei einem Erdbeben über ihm zusammengestürzt. Das hatte verdammt wehgetan. Aber noch schlimmer war das folgende Donnerwetter der Magistra Bibliothecaria, Meisterin Iggle, gewesen, als er ein Werk über Glasbläserkunst aus dem 13. Jahrhundert mit einer verknickten Seite zurückgebracht hatte.
    »Rufus Minkenbold!«, hatte sie mit ihrer durchdringenden Stimme geschimpft. »Nur weil du und deine Mitfrischlinge vor ein paar Wochen erfolgreich eure erste Flut bestanden habt, erlaube ich dir noch lange nicht, dass du meine kostbaren Bücher nachlässig behandelst. Zur Strafe für dieses schändliche Eselsohr ziehe ich dir einen Erkenntnispunkt ab. Und ich versichere dir, beim nächsten Mal wird mich nichts daran hindern, dich zu ausgedehnten Aufräumarbeiten bei mir in der Bibliothek zu begrüßen. In den obersten Regalen muss einiges entstaubt werden.«
    Schon der Gedanke daran hatte Rufus schwindelig werden lassen. Die obersten Regale der Bibliothek waren nur über drei aufeinanderfolgende schmale und etwas wackelige Holzleitern zu erreichen, auf denen sich außer Meisterin Iggle höchstens ein ausgebildeter Feuerwehrmann oder ein Hochseilartist wirklich sicher bewegte.
    Rufus stand auf, zog sein Hemd aus und trat an das alte Wasserbecken mit dem Löwenkopf darüber. Er drehte den Hahn auf, wartete, dass das Löwenmaul Wasser zu spucken begann, und schaufelte es sich dann rasch über Kopf und Körper. Was hatte er da nur zusammengeträumt? Er forschte doch die ganze Zeit an seinem neuen Fragment, und das war eine Glasscherbe, die mit all dem nun wirklich nichts zu tun haben konnte. Wie kam er dann auf diesen Wald, auf so eine seltsame Sprache und die merkwürdige Kochstelle? Das war äußerst seltsam.
    Nun ja, er hatte schon immer wild geträumt. Und das setzte sich halt in der Akademie fort, nur, dass er hier Sachen träumte, die irgendwie mit historischen Geschichten zusammenhingen.
    Erst vor ein paar Tagen hatte Rufus geträumt, dass er zusammen mit einigen anderen Lehrlingen mitten im alten Rom ins Kino ging. Schon das war völlig irre gewesen. Aber dann hatte er im Kino auch noch plötzlich seiner Mutter gegenübergestanden und ihr verraten, dass es sich bei der Akademie gar nicht um ein Eliteinternat handelte. Das durfte sie natürlich nicht wissen. Zum Glück war es nur ein Traum gewesen, und sie hatte in Wirklichkeit nicht die
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