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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben
Autoren: Boris Pfeiffer
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Akademie. In ihnen zeigte sich die Vergangenheit rund um die Geschichte des Artefakts, von dem das Fragment stammte. In einer solchen Flut konnte man sich frei bewegen, in welcher Zeit auch immer sie sich abspielte. Es war das leibhaftige Studium vergangener Zeiten.
    Und Rufus hatte, zusammen mit Filine, schon bald nach seiner Ankunft seine erste Flut ausgelöst. Sie beide sowie No und das Lehrlingsmädchen Coralia waren als Flutgruppe im alten Ägypten gewesen.
    In den Stunden der Flut hatte Rufus so viel erlebt und gelernt wie noch nie zuvor. Er war am Nil von vor dreitausend Jahren entlanggegangen, war der Pharaonin Anchetcheprure, einem nubischen Goldschmiedemeister und dessen Sohn begegnet, dessen Kunst als Bildhauer die Pharaonin betört hatte. Er hatte eine politische Verschwörung erlebt und sprach seitdem sogar etwas Ägyptisch. Doch das war nicht alles.
    Das Höchste der Gefühle war es, die Geburtsstunde des Artefakts, an dem man forschte, zu entdecken. Bei einem solchen Erfolg materialisierte sich am Ende der Flut das ehemalige Artefakt in der Akademie neu.
    Und das war Filine und ihm gelungen. Rufus’ Silberfragment hatte sich als Teil der Katze der Anchetcheprure herausgestellt, eines einmaligen ägyptischen Kunstwerks. Und Filine hatte außerdem ein blaues Armband der Pharaonin entdeckt.
    Auf diese Weise hatten die Mitglieder der Akademie im Laufe der Jahrhunderte viele verschollene Menschenwerke wieder ins Leben gerufen, und es gehörte zu ihren Aufgaben, diese Schätze unauffällig in öffentliche Museen zu bringen, damit die Menschen ihre eigene Geschichte dort besser studieren konnten.
    Rufus lief die letzten Meter der Wendelrampe hinunter und ging dann durch eine offenstehende hohe Holztür in die Mensa. Er sah sich nach seinen Freunden um. Doch auf den ersten Blick war von ihnen nichts zu entdecken.
    Inmitten des großen Saals brannte in einer hohen Sanddüne ein munteres Feuer, über dem ein langer Eisenrost als offene Kochstelle diente. Kupferne Wasserkessel auf Dreibeinen standen über den Flammen und direkt daneben erhob sich ein gewaltiger gemauerter Ofen.
    Quer durch den großen Raum waren verschiedene Lager- und Essstätten aus allen Zeiten und Kontinenten verteilt.
    Jetzt, am frühen Morgen, stand der Herrscher über dieses Reich, Meister Spitznagel, alleine auf der großen Sanddüne und buk Brot. Um ihn herum gruppierten sich verschiedene Backformen und gewaltige Teigberge sowie Näpfe und Schüsseln mit Gewürzen. Der Kochmeister war ein kräftiger Mann mit einem dicken Schnurrbart und tiefblauen Augen. Eben nahm er einen langen Eisenspieß, an dem ein Dutzend Brote aufgereiht waren, und prüfte mit einem kritischen Blick die goldene Farbe der Krusten. Dann streifte er die Brote zufrieden auf einen Tisch.
    Als Rufus ihn so hantieren sah, fiel ihm der Wassertrog in seinem Traum wieder ein.
    »Guten Morgen, Meister Spitznagel!«, rief er dem stattlichen Mann zu.
    »Guten Morgen, Rufus!«
    Rufus kam näher. »Meister Spitznagel, gab es eigentlich eine Zeit oder einen Ort, wo man heiße Steine in Holztröge legte, um so das Wasser zum Kochen zu bringen?«
    Der Meister sah auf. »Diese Methode gibt es sogar noch heute! Jedenfalls bei Leuten, die gerne Urlaub wie Waldläufer machen.« Er stieß ein donnerndes Lachen aus. »Aber im Ernst, um Fleisch in seiner eigenen Flüssigkeit oder in Wasser zu kochen, hat die Menschheit das mindestens so lange so gemacht, wie es noch keine gebrannten Ton- oder Metalltöpfe gab, die man problemlos aufs Feuer setzen konnte. Oder anders gesagt: In so ziemlich jedem Holztopf wird das Wasser mittels heißer Steine zum Sieden gebracht. Wie sieht dein Holztrog denn aus?«
    Rufus dachte nach. »Ich weiß es nicht mehr genau«, sagte er dann. »Außerdem war er eingegraben.«
    »Wo hast du ihn denn gesehen?«
    »Ich habe ihn nicht wirklich gesehen. Ich habe nur davon geträumt. Und es war irgendwann in der Vergangenheit.«
    Der Koch hielt abrupt inne. »Träumst du öfter von vergangenen Ereignissen?«
    »Eigentlich nicht«, erwiderte Rufus. »Und es war auch kein richtiger Traum über etwas Historisches. Nur die Kleidung der Menschen schien alt. Aber da war noch alles Mögliche dabei. Irgendein Tier, das dann plötzlich verschwunden war. Und eben das Kochen in diesem Trog. Und ich bin sowieso mittendrin aufgewacht, weil mich ein Buch auf meinem Schreibtisch ins Gesicht gepikt hat. Deswegen kann ich mich nicht besonders gut erinnern.«
    Doch Meister Spitznagel
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