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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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zur Mündung gelangen.

2
    Liebe Nora, gestern hat es zum ersten Mal richtig geschneit.
    Am Nachmittag bin ich hinaus in den Wald gegangen. Der Schnee verändert alles, die Natur ist wie verzaubert. Auch ein ganz nahes Geräusch scheint von weit her zu kommen. Mehr als die Geräusche wird plötzlich deren Nachhall wahrnehmbar und all das geheimnisvolle Leben seiner Bewohner. Hier sind zwei Hasen hintereinander hergerannt, dort ist ein Eichhörnchen vorbeigesprungen, da, unter der Kiefer, ist ein Marder stehen geblieben und dann zurückgelaufen.
    Überall sind Spuren, die Tierspuren und meine. Einen Augenblick lang habe ich mir vorgestellt, neben meinen wären auch die deinen.
    Erinnerst du dich an unsere erste große Bergtour? Auf einer Hochebene kurz vor den Geröllfeldern unterhalb der Gipfel hatten wir das Zelt aufgestellt – ein schweres, von meinen Ersparnissen gekauftes tschechoslowakisches Zelt. Rund um uns standen Bergkiefern und weite Flächen voller Rhododendron. Es war September. Anstatt zu schlafen, verbrachten wir die Nacht mit Reden. Es war Vollmond, und der Himmel war sternenklar. Im ersten Morgengrauen wolltest du hinaus. Dir war, als hättest du den Schrei eines Adlers gehört, du wolltest nicht die Gelegenheit verpassen, den ersten Adler deines Lebens zu sehen.
    Ich folgte dir, und wir setzten uns auf einen Felsen. Der Raubvogel erschien fast sofort. Mit ausgebreiteten Schwingen segelte er im klaren Licht jener eiskalten Morgenröte und wiederholte ab und zu seinen Schrei. Dann stieg er plötzlich, den Aufwind nutzend, steil nach oben und entschwand unseren Blicken. Daraufhin umarmtest du mich fest, mit eisiger Nase und kältesteifen Händen, während hinter den prächtigen Gipfeln die ersten Sonnenstrahlen leuchteten.
    »Gibt es ein ›für immer‹?«, fragtest du mich.
    Ich drückte dich noch fester an mich. Durch die Schichten von Unterhemden, Pullovern und Windjacken hindurch spürte ich warm und lebendig deinen schmalen Körper.
    »Es gibt nur das ›für immer‹«, erwiderte ich.
    Die Nacht hier oben ist jetzt hingegen schwarz wie Tinte, sie verschluckt alles, die Bäume verschwinden, der Horizont zum Tal löst sich auf, der Stall verschwindet, der Schlitten, der Lattenzaun um den Gemüsegarten. Die Formen verwischen sich, und die Geräusche klingen anders. Die Rotkehlchen, die Amseln, die Elstern und die Krähen ziehen sich ins vereiste Gezweig zurück. Im Stroh drängen sich die Lämmer an die Mutterschafe und hören auf zu blöken, nur der Atem – zwei kleine Atemwölkchen – verbindet sie, und ein leichter Dunst steigt auch aus ihrem Fell auf, es dampft in der Luft, wie der Boden im März, wenn der Schnee schmilzt und der Himmel alles erwärmt. Die Nacht hat ihre Bewohner, und die sind gesichtslos. Der beharrliche Ruf der Eule, der dringliche Schrei des Käuzchens. In der Ferne hört man ab und zu das einsame Heulen der Wölfe, dazwischen das trockene Kläffen der Füchse rund um die Häuser. Wenn dann das Dunkel allmählich weicht, hallen über den vereisten Boden das Getrappel der Hirsche und das laute Röhren, das die Paarung ankündigt.
    In der ersten Morgendämmerung stelle ich Wasser auf dem Ofen auf und gehe dann mit dem heißen Krug in den Schafstall. Die Schafe liegen alle noch dicht aneinandergedrängt im Stroh, um sich zu wärmen. Sie leben seit Jahren bei mir, und jedes hat einen Namen, sie erkennen meine Stimme schon von Weitem und beantworten meine Rufe mit sanftem Blöken. Die Lämmer – mit noch makellosem Fell – ruhen eingerollt zwischen den Beinen ihrer Mütter und stupsen sie mit der Schnauze an, worauf die Mütter ihnen den Kopf lecken. Später, wenn ich ihnen die Tür öffne, purzeln sie hinaus, rennen wie wild herum und klettern im Spiel immer wieder auf einen Schubkarren, der umgedreht mitten im Hof liegt.
    Mit dem heißen Wasser, das ich aus dem Haus mitgebracht habe, bringe ich die Eisschicht auf der Tränke zum Schmelzen, dann fülle ich die Krippe mit Futter. Die Tiere sind noch schläfrig und wirken nicht sonderlich interessiert. Also setze ich mich auf den Melkschemel und bleibe still ein bisschen bei ihnen.
    Irgendwo huscht eine Maus durchs Stroh, und ein fröstelnder Hausrotschwanz schaut zum Fenster herein. Die Scheiben sind ganz vereist, und mein Atem bildet Dampfwölkchen, genau wie bei den Schafen.
    Hier unter den Tieren zu sein schenkt mir große Ruhe. Das Stroh und die Wärme vermitteln mir ein Gefühl der Fürsorge und des
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