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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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um mich sah?
    Waren auch wir kleine Pünktchen gewesen und in Gefahr, zerquetscht zu werden?
    Die Insekten – jedenfalls, soweit ich wusste – träumten allerdings nicht, dachten nicht, waren nicht fähig, sich die Zukunft auszumalen. Sie suchten sich Nahrung, jemanden zur Paarung, und das war alles. Die Maikäfer ähnelten sich alle, keiner von ihnen hieß Mario oder Silvio, das Gleiche galt für die Hummeln, während ich anders war als mein Vater, so wie auch mein Vater sich von dem seinen unterschied und wie meine Kinder sich eines Tages von mir unterscheiden würden.
    Woher kam dieser unsichtbare Teil?
    War es wie ein Hemd, das wir bei der Geburt überstreiften, oder waren wir irgendwo und hatten das Hemd schon an, vielleicht alle miteinander in der Fragezeichenwolke? Und wenn die Aaskäfer und die Larven zu knabbern anfingen, wohin würden wir in unserem Hemd dann gehen?
    Einmal hatte mein Vater mich zu einem Konzert mitgenommen. Bevor wir den Saal betraten, hatten wir unsere Mäntel bei einer jungen Frau abgegeben, die uns im Tausch eine Nummer ausgehändigt hatte.
    War es so?
    Gab man am Ende das Hemd bei jemandem ab, und es wurde kontrolliert, in welchem Zustand wir es zurückgaben? Einige waren voller Löcher, andere zerschlissen, verkommen und schmutzig, wieder andere noch perfekt gestärkt, als kämen sie soeben frisch aus dem Geschäft.
    Musste man vielleicht eine Strafe bezahlen, so wie wenn man etwas kaputt macht, was einem nicht gehört?
    Aber gehörte das Hemd überhaupt uns oder nicht?
    Und wenn es uns gehörte, warum stand es uns dann nicht frei, damit zu machen, was wir wollten?
    Diese Sommer, die ich mit Streifzügen durch die Felder verbrachte, ohne jemandem über meine Zeit Rechenschaft ablegen zu müssen, waren mein erster Freiraum zum Denken. In der Stadt musste ich in die Schule gehen, Hausaufgaben machen, meine Mutter zu schrecklich langweiligen Teegesellschaften mit ihren Freundinnen begleiten, mit meinem Vater zum Einkaufen gehen. Ich war immer erdrückt von Sein-müssen und Tunmüssen, sodass mir keine Zeit blieb, um mich gründlich mit den Fragen zu beschäftigen, die sich wie eine ungeduldige Menge in meinem Hirn drängten.
    In dem Sommer, in dem ich neun Jahre alt wurde, hatte ich kurz vor meiner Rückkehr in die Stadt einen wunderschönen Schmetterling gefangen. Er hatte große Flügel, lange Schwänze und einen gelbschwarzen Leib mit ein paar roten Punkten. Triumphierend umschloss ich ihn mit den Fingern und lief in die Küche, um ihn den Großeltern zu zeigen. Wie tief war meine Enttäuschung, als ich entdeckte, dass der Zauber dieses Wesens an meinen Händen kleben geblieben war! Seine ganze Pracht war nur leuchtender Staub – jetzt wand sich vor meinen Augen ein kleines graues Insekt, das bald verenden würde. Ich brach in Tränen aus.
    »Was ist passiert? Bist du hingefallen?«, fragte mich die Großmutter, ohne vom Herd aufzuschauen.
    Ohne eine Antwort lief ich hastig hinaus. Jemand hatte mir einen Sporn ins Herz gerammt und drehte ihn auf der Suche nach der Stelle, an der es am meisten schmerzte.
    Auch die Schönheit war nichts als flüchtiger Schein; sie ließ sich spielend leicht zerstören.
    Am selben Tag beim Abendessen, während die Suppe in den Tellern dampfte, fragte ich den Großvater:
    »Warum leben wir?«
    Eine Weile sah er mich verblüfft an. Dann sagte er mit seiner tiefen Stimme – jener Stimme, die ich so selten vernahm:
    »Um unsere Arbeit zu machen, um sie gut zu machen. Für das Vieh, für die Felder …«
    »Iss, bevor es kalt wird«, fügte die Großmutter sofort hinzu, und erneut herrschte Schweigen im Zimmer.
    Durchs offene Fenster flogen die Nachtfalter herein. Es gab winzige und riesige, sie schwirrten herum wie verrückt, fielen in die Teller und versuchten, mit nassen Flügeln wieder abzuheben, sie tauchten in die Gläser, in den Wasserkrug, ertranken zappelnd in der Karaffe mit dem Wein. Ab und zu stürzte sich auch einer auf die Kerzenflamme.
    Das Knistern dieses winzigen Scheiterhaufens schien mir in jenem Augenblick das einzig wahre Geräusch auf der Welt.

4
    Manchmal habe ich unwillkürlich gedacht, dass es wohl die besondere Situation mit unseren Vätern war, die uns von Anfang an so stark verband. Meiner sehbehindert – damals sagte man einfach blind – und deiner abwesend, oder besser, auf ein Kürzel reduziert. Das gehörte zu den ersten Dingen, die du mir während unserer Annäherungsgespräche gesagt hast. Du hattest mir gerade
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