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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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hast du sie, glaube ich, nur einmal gesehen, am Tag unserer hastigen Hochzeit. Sie saßen in der ersten Reihe, verlegen, gerührt, das Gesicht zerfurcht von zu viel Feldarbeit unter der Sonne.
    Am Ende der Trauung, in einen längst zu engen Mantel gezwängt, hatte meine Großmutter mit ihren rauen Händen die deinen ergriffen und dich geküsst mit den Worten: »Gott segne dich, meine Tochter.« Ich erinnere mich noch an deinen Blick, überrascht, spöttisch. Diese Worte und diese Gestalt kamen dir wahrscheinlich vor, als wären sie einem Heimatroman entsprungen.
    Den Hauptteil ihres Lebens hatten meine Großeltern als Halbpächter verbracht, später konnten sie den Hof kaufen und wurden selbstständige Kleinbauern. Auch meine Urgroßeltern waren Halbpächter gewesen. Meine Mutter war die Erste aus der Familie, die studierte. Sie hatte die Lehrerbildungsanstalt besucht, und ich denke, dass sie sich irgendwie für ihre Eltern schämte. Sie hatte keinerlei Sehnsucht nach dem Land, hasste die Fliegen, den Staub, die starken Gerüche. Die Wohnung so blitzblank zu halten wie ein Juwel war ihr das Wichtigste im Leben.
    Wenn ich den Sommer bei den Großeltern verbrachte, blieb sie mit meinem Vater in der Stadt und kam nur am Sonntag. Die Großeltern waren eher still und kümmerten sich nicht weiter um mich. Mit Großmutters altem Fahrrad kurvte ich durch die Felder, mein Kinn reichte kaum bis an den Lenker. Unsicher radelte ich, ohne genau zu wissen, wohin. Ab und zu hielt ich an und legte mich ins Gras. Ganze Nachmittage verbrachte ich damit, die Wolken am Himmel ziehen zu sehen, Drachenwolken und Elefantenwolken, Dampferwolken und Pferdewolken, Schafwolken und Fragezeichenwolken.
    Wenn ich es müde wurde, nach oben zu schauen, wandte ich den Blick ab und betrachtete die Wiese rundherum: Da gab es winzige Ameisen, die riesige Lasten schleppten; Heuhüpfer, die beim Springen unerwartet rote oder blaue Flügel zeigten; Maikäfer mit Chitinpanzer, die wie Smaragd glänzten; Hummeln, haarig wie kleine Bären, die genüsslich brummend in die Eibischblüten eintauchten.
    Die Welt da unten war nicht weniger wunderbar als die Welt da oben, im Gegenteil. Denn beim Betrachten des Himmels musste ich meine Phantasie benutzen – ohne den Namen, den ich den Wolken gab, wären sie ja nur Zusammenballungen aus Dampf gewesen –, während das, was ich direkt vor meiner Nase sah, mich mit seiner Vielfalt und Komplexität immer wieder erstaunte.
    Woher kamen die Ameisen, wer hatte sie erfunden? Wer hatte entschieden, dass die Ameisen Ameisen sein sollten?
    Warum gab es außer Bienen auch Hummeln? Waren diese fetten Bienen wirklich nötig?
    Wie war es möglich, dass die weißen, gedrungenen Würmer, die ich in der Erde fand, wenn ich mit einem Stöckchen grub, eines Tages herrliche Maikäfer wurden, die mit ausgebreiteten Flügeln ins Sonnenlicht schwirrten?
    Wie brachten sie diese Verwandlung fertig? Der Großvater hatte mir das erzählt, aber konnte ich ihm glauben?
    Und wenn die Würmer zu fliegenden Panzern werden konnten, zu was hätte ich dann werden können?
    Verwandlung, war das das Gesetz der Welt?
    Wenn ich dann das Gerippe eines toten Tieres mit nach Hause brachte, das ich auf meinen Streifzügen gefunden hatte, betrachtete der Großvater es und urteilte: »Das war der Marder … das war das Wiesel … das war der Falke … das war der Fuchs.« Je nachdem, welcher Körperteil fehlte, wusste er, wer als Erster zugebissen, mit Schnabel oder Kralle zugepackt hatte; doch der erste Biss war nur der Trompetenstoß, der alle anderen zum Festmahl rief, denn wer getötet hatte, verzehrte nur einen Teil der Beute – nach ihm kam die endlose Schar der Mitesser, die Fliegenlarven, die Aaskäfer, die Springschwänze.
    Welchen Sinn hatten unsere Tage, fragte ich mich, wenn das die Verwandlung war? Zu einem Festmahl? Zu Nahrung für zahllose Kostbarkeiten, das zahllosen winzigen Wesen ermöglichte, im Überfluss zu leben? Oder gab es, was uns betraf, noch eine andere Verwandlung?
    Im Gemüsegarten zerquetschte der Großvater winzige gelbe Punkte auf den Kohlblättern; doch wenn ihm welche entgingen, verwandelten sich diese Pünktchen innerhalb weniger Tage in ein Gewimmel von Raupen, und noch eine Verwandlung später wurden daraus die Schmetterlinge.
    Diese Pünktchen waren Schmetterlinge, bevor sie Schmetterlinge wurden.
    Und ich, was war ich, wo war ich, bevor ich ich wurde?
    Und mein Vater, meine Mutter und alle Menschen, die ich rund
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