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Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff

Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff

Titel: Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
Autoren: Lucinda Riley
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1
    Dunworley Bay, West Cork, Irland
    Die Gestalt stand gefährlich nahe am Rand der Klippe. Der Wind blies ihr üppig langes rotes Haar hoch. Das dünne weiße Baumwollkleid reichte bis zu den Knöcheln; darunter kamen nackte Füße zum Vorschein. Sie hielt die Arme, die Handflächen nach oben, über den sich brechenden Wellen der grauen See ausgestreckt, als wollte sie sich den Elementen als Opfergabe darbieten.
    Grania Ryan beobachtete sie fasziniert und unsicher, ob sie real war. Sie schloss die Augen kurz, machte sie wieder auf und sah, dass sie nach wie vor dort stand. Grania ging einige Schritte auf sie zu.
    Als sie näher kam, merkte Grania, dass es sich bei der Gestalt um ein Kind und bei dem weißen Baumwollkleid um ein Nachthemd handelte. Über dem Meer ballten sich schwarze Sturmwolken zusammen, die ersten Regentropfen landeten auf ihren Wangen, und der Wind heulte ihr um die Ohren. Aus etwa zehn Metern Entfernung erkannte Grania, wie sich die blau gefrorenen Zehen der Kleinen am Fels festkrallten und Böen den schmalen Körper ins Wanken brachten. Wenn sie sie packte und erschreckte, konnte ein falscher Schritt zu einer Tragödie, zum sicheren Tod des Mädchens auf den gischtbedeckten Felsen dreißig Meter unter ihnen führen.
    Grania überlegte verzweifelt, was zu tun sei. Bevor sie zu einer Entscheidung gelangen konnte, drehte sich die Kleine um und sah sie mit leerem Blick an.
    Grania streckte instinktiv die Arme aus. »Ich tu dir nichts. Komm zu mir.«
    Das Mädchen starrte sie weiter unverwandt an.
    »Wenn du mir sagst, wo du wohnst, bringe ich dich nach Hause. Hier draußen holst du dir den Tod. Bitte lass dir helfen«, flehte Grania sie an.
    Als sie einen Schritt auf das Kind zumachte, trat ein Ausdruck der Angst auf das Gesicht der Kleinen, als wäre sie aus einem Traum erwacht, und sie rannte von Grania weg, immer die Klippen entlang, bis sie außer Sichtweite war.
    »Ich wollte grade eine Suchmannschaft losschicken. Übler Sturm da draußen.«
    »Mam, ich bin einunddreißig Jahre alt und habe die letzten zehn in Manhattan gelebt«, erwiderte Grania, als sie die Küche betrat und ihre nasse Jacke vor den Rayburn-Herd hängte. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich bin ein großes Mädchen.« Sie gab ihrer Mutter, die den Tisch fürs Abendessen deckte, einen Kuss auf die Wange. » Wirklich. «
    »Mag sein, aber solche Stürme haben schon starke Männer von den Klippen geweht.« Kathleen Ryan deutete zum Küchenfenster hinaus, gegen das die Äste des blütenlosen Glyzinienbuschs peitschten. »Ich hab grade Tee gekocht.« Kathleen wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging zum Herd. »Möchtest du eine Tasse?«
    »Gern, Mam. Setz dich hin und lass mich das machen, ja?« Grania drückte ihre Mutter sanft auf einen Küchenstuhl.
    »Bloß fünf Minuten. Um sechs kommen die Jungs heim und wollen ihren Tee.«
    Als Grania das starke Gebräu in zwei Tassen goss, runzelte sie die Stirn. In den zehn Jahren ihrer Abwesenheit hatte sich nichts verändert – Kathleen verwöhnte ihre Männer wie eh und je und ordnete ihre eigenen Bedürfnisse den ihren unter. Der Kontrast zwischen dem Leben ihrer Mutter und dem Granias, in dem Emanzipation und Gleichberechtigung selbstverständlich waren, verunsicherte Grania.
    Sie fragte sich, wer von ihnen beiden, Mutter oder Tochter, im Augenblick glücklicher war. Seufzend gab Grania Milch in Kathleens Tee. Die Antwort kannte sie.
    »Möchtest du einen Keks?«, erkundigte sich Grania, stellte die Dose vor Kathleen und öffnete sie. Wie üblich war sie bis zum Rand voll. Granias figurbewusste New Yorker Zeitgenossinnen hätten diese Kekse, die Grania an ihre Kindheit erinnerten, sicher entsetzt beäugt.
    Kathleen nahm zwei und sagte: »Gönn dir doch auch einen, damit ich nicht allein bin. Du isst wie ein Spatz.«
    Grania nahm ebenfalls einen Keks und knabberte daran. Sie hatte das Gefühl, seit ihrer Heimkehr zehn Tage zuvor ständig zu essen.
    »Der Spaziergang hat dich ein bisschen durchgelüftet, was?«, erkundigte sich Kathleen, die bereits beim dritten Keks war. »Ich geh beim Nachdenken gern spazieren. Wenn ich wieder daheim bin, weiß ich meistens die Lösung meiner Probleme.«
    »Ich hab da draußen etwas Merkwürdiges gesehen.« Grania trank einen Schluck Tee. »Ein kleines Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt, mit wunderschönen langen roten Haaren, im Nachthemd am Rand der Klippe. Ich hatte den Eindruck, dass die Kleine
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