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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Autoren: Michelle Zink
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besteht alles nur aus Umrissen und Schatten. Aber schon bald erkenne ich die Möbel, die sich unter den weißen Tüchern, mit denen sie abgedeckt sind, abzeichnen, die dunkle Masse in der Ecke, von der ich weiß, dass sie ein Schrank ist, und die Gestalt, die - umringt von Kerzen - auf dem Boden sitzt.
    Alice .
    Meine Schwester sitzt auf dem Fußboden des dunklen Zimmers. Der Schein unzähliger Kerzen hüllt ihren Körper
in ein weiches gelbes Licht. Sie murmelt, flüstert etwas, als ob sie mit jemandem sprechen würde, der ihr ganz nah ist, obwohl ich von meiner Position aus keine Menschenseele sehen kann. Sie kniet mit eng aneinanderliegenden Beinen da. Ihre Augen sind geschlossen und ihre Arme hängen seitlich herab.
    Ich blicke mich in dem Zimmer um, sorgsam darauf bedacht, die Tür nicht zu berühren, um sie nicht zu bewegen. Aber da ist sonst niemand. Niemand außer Alice, die, gefangen in einer merkwürdigen Zeremonie, vor sich hin murmelt. Und selbst dies, dieses düstere Ritual, das Tentakel aus Angst durch meinen Körper jagt, ist nicht das Merkwürdigste an der ganzen Situation.
    Nein, es ist die Tatsache, dass meine Schwester auf dem blanken Boden sitzt. Der große, abgewetzte Läufer, der in dem Raum liegt, so lange ich denken kann, ist zurückgeschlagen. Sie sitzt, so selbstverständlich, als hätte sie es schon unzählige Male getan, inmitten eines Kreises, der in den Boden geritzt ist. Ihre Gesichtszüge kommen mir im Kerzenlicht fremd vor, fast grob.
    Die Kälte des ungeheizten Korridors dringt durch den dünnen Stoff meines Nachthemds. Ich trete zurück. Mein Herz klopft so laut, dass ich fürchte, Alice könnte es im Inneren des dunklen Zimmers hören.
    Als ich mich abwende, um zu meinem Zimmer zurückzukehren, muss ich das Verlangen zu rennen niederkämpfen. Stattdessen schreite ich mit ruhigen Schritten, schließe meine Zimmertür hinter mir und klettere in die tröstende
Sicherheit meines Bettes. Lange Zeit liege ich wach und versuche, das Bild der erleuchteten Alice in dem Kreis aus meinen Gedanken zu verbannen. Und ihre Stimme, die mit jemandem flüsterte, der nicht da war.
     
    Am nächsten Morgen stelle ich mich in das klare Licht, das durch das Fenster strahlt, und schiebe den Ärmel meines Nachthemds nach oben. Das Zeichen ist noch dunkler geworden, der Kreis dicker und deutlicher sichtbar.
    Und da ist noch etwas anderes.
    In dem unbestechlichen Tageslicht gibt es keinen Zweifel an diesem Ding, das den Kreis selbst umkreist und die Ränder undeutlich erscheinen lässt. Ich streiche mit dem Finger über die Oberfläche des Zeichens, das sich wie eine Narbe aus meiner Haut wölbt, folge den Linien der Schlange, die sich um den Rand des Kreises windet, bis sie mit ihrem Maul ihren eigenen Schwanz verschlingt.
    Die Jormundgand.
    Nur wenige 16-jährige Mädchen würden von dieser Schlange wissen, aber ich kenne sie aus Vaters Büchern über Mythologie. Sie ist mir auf Anhieb vertraut und ängstigt mich zugleich, denn aus welchem Grund sollte sich ein solches Symbol auf meiner Haut befinden?
    Ich spiele kurz mit dem Gedanken, Tante Virginia davon zu erzählen, und verwerfe ihn dann wieder. Sie leidet genug unter dem Tod meines Vaters. Als unsere einzige lebende Verwandte obliegt nun ihr unser Wohlergehen, einschließlich der Pflege von Henry und der Sorge um seine
zahlreichen Bedürfnisse. Ich werde diesen Lasten keine weitere hinzufügen.
    Ich kaue auf meiner Unterlippe. Es ist mir unmöglich, an meine Schwester zu denken, ohne sie unwillkürlich auf dem Boden des dunklen Zimmers sitzen zu sehen. Ich beschließe, sie zu fragen, was sie dort getan hat. Unter diesen Umständen ist die Frage nur logisch. Und dann werde ich ihr das Zeichen zeigen.
    Nachdem ich mich angekleidet habe, mache ich mich auf die Suche nach Alice. Ich hoffe, dass sie keinen Streifzug über das Anwesen macht, wie sie es so gerne tut. Es wäre bequemer für mich, sie auf ihrem Lieblingsplatz auf der Veranda bei einem Sonnenbad vorzufinden, als die weitläufigen Felder und Waldstücke von Birchwood nach ihr abzusuchen. Als ich mich zum Gehen wende, fällt mein Blick auf die geschlossene Tür des dunklen Zimmers. Von hier aus sieht alles so aus wie immer. Ich kann mir fast vorstellen, dass mein Vater noch am Leben ist und in der Bibliothek sitzt und dass meine Schwester niemals in tiefster Nacht auf dem Fußboden dieses verbotenen Zimmers kniete. Und doch ist es so.
    Ich habe mich entschlossen, noch ehe ich es merke. Mit
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