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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Autoren: Michelle Zink
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sind weder so hübsch noch so bunt wie die Blumen, die ich im Frühling auf Vaters Grab legen will, aber sie sind alles, was ich im Moment habe. Ich nehme James’ Arm und wende mich zum Gehen, verlasse mich darauf, dass er mich nach Hause führen wird.
     
    Es ist nicht die Wärme im Salon, die mich dort verweilen lässt, lange nachdem der Rest der Familie sich zurückgezogen hat. Auch in meinem Zimmer gibt es einen Kamin, wie in den meisten Räumen von Birchwood Manor. Nein, ich sitze in dem dunklen Salon, der nur von dem glühenden Schimmer des erlöschenden Kaminfeuers erhellt
wird, weil ich nicht den Mut habe, nach oben zu gehen.
    Mein Vater ist seit drei Tagen tot, und in diesen drei Tagen verstand ich es, mich zu beschäftigen. Henry musste getröstet werden, und obwohl Tante Virginia die Vorbereitungen für das Begräbnis in ihre Hände nahm, schien es mir nur richtig, sie dabei zu unterstützen. Das redete ich mir zumindest ein. Aber jetzt, in dem leeren Raum, in dem mir nur das Ticken der Kaminuhr Gesellschaft leistet, merke ich, dass ich lediglich versucht habe, mich vor diesem Augenblick zu drücken, vor dem Gang die Treppe hinauf und vorbei an dem verwaisten Zimmer meines Vaters. Vor diesem Moment, in dem ich mir selbst eingestehen muss, dass er fort ist.
    Ich erhebe mich rasch, bevor mich meine Nerven im Stich lassen. Ich schaue auf meine Pantoffeln und konzentriere mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. So laufe ich die gewundene Treppe hinauf und durch den Korridor des Ostflügels. Während ich Alices Zimmer passiere und danach das von Henry, werden meine Augen magisch von der Tür am Ende des Korridors angezogen. Dahinter liegen die Privatgemächer meiner Mutter.
    Das dunkle Zimmer.
    Als kleine Mädchen sprachen Alice und ich oft im Flüsterton von diesem Raum, obwohl ich nicht sagen kann, warum wir ihn das »dunkle Zimmer« nannten. Die meisten der Räume von Birchwood Manor werden neun Monate im Jahr von Kaminfeuer erleuchtet, und nur diejenigen,
die nicht benutzt werden, sind wirklich dunkel. Aber selbst als meine Mutter noch lebte, kam uns dieses Zimmer dunkel vor, denn hierhin zog sie sich in den Monaten vor ihrem Tod zurück. In diesem Zimmer entglitt sie uns jeden Tag ein wenig mehr.
    Ich setze meinen Weg zu meinem eigenen Zimmer fort, wo ich mich entkleide und mein Nachthemd anziehe. Ich lasse mich gerade auf dem Bett nieder und will mir das Haar bürsten, als mich ein Klopfen an der Tür aufschrecken lässt.
    »Ja?«
    Alices Stimme dringt durch die Tür. »Ich bin’s. Darf ich hereinkommen?«
    »Natürlich.«
    Die Tür öffnet sich knarrend und herein strömt ein Schwall kühler Luft aus dem ungeheizten Korridor. Alice drückt die Tür rasch wieder zu, durchquert den Raum und setzt sich neben mich aufs Bett, wie sie es früher immer tat, als wir noch Kinder waren. Unsere Nachthemden sind fast identisch, genau wie wir. Fast, aber nicht ganz. Alices Nachtgewänder müssen stets aus feinster Seide genäht sein, während mir schon seit jeher Bequemlichkeit wichtiger war als die Mode. Ich trage immer Nachthemden aus Flanell, außer im Sommer.
    Alice streckt die Hand nach meiner Haarbürste aus. »Lass mich das machen.«
    Ich gebe ihr die Bürste, wende ihr meinen Hinterkopf zu und bin dankbar, dass ich auf diese Weise meine Überraschung
verbergen kann. Wir sind nicht die Art von Schwestern, die sich vor dem Schlafengehen gegenseitig das Haar bürsten und dabei Vertraulichkeiten austauschen.
    Sie zieht die Bürste in langen Strichen durch mein Haar, setzt am Scheitel an und endet an den Spitzen. Wenn ich uns so in dem Spiegel über der Kommode betrachte, fällt es mir schwer zu glauben, dass jemand uns auseinanderhalten kann. Aus dieser Entfernung und im schwachen Schein des Feuers sehen wir völlig identisch aus. Unser Haar hat den gleichen kastanienbraunen Schimmer. Unsere Wangenknochen verlaufen in dem gleichen Winkel. Aber ich weiß, dass die feinen Unterschiede für alle, die uns kennen, unübersehbar sind. Da ist die Form meines Gesichts, das ein wenig runder ist, während die Konturen meiner Schwester schärfer erscheinen, und da ist auch jener ernste, in sich gekehrte Blick in meinen Augen, der das listige Glühen in ihren kontrastiert. Alice funkelt wie ein Juwel im hellen Licht, während ich brüte, grüble und mir tausend Fragen stelle.
    Das Feuer im Kamin knistert. Ich schließe die Augen und entspanne die Schultern, gebe mich dem besänftigenden Rhythmus der Bürste hin,
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