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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Autoren: Michelle Zink
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die durch mein Haar gleitet. Mit der Hand glättet Alice die Strähnen auf meinem Kopf.
    »Erinnerst du dich an sie?«
    Meine Lider zucken flatternd nach oben. Das ist eine ungewöhnliche Frage, und einen Moment lang weiß ich nicht, wie ich sie beantworten soll. Wir waren erst sechs,
als unsere Mutter durch einen unerklärlichen Sturz von der Klippe am See zu Tode kam. Henry war gerade ein paar Monate vorher geboren worden. Die Ärzte hatten bereits keinen Zweifel daran gelassen, dass der Sohn, nach dem sich unser Vater so lange gesehnt hatte, nie würde laufen können. Tante Virginia behauptet, meine Mutter sei nach Henrys Geburt nicht mehr dieselbe gewesen, und die Fragen, die um ihren Tod kreisen, sind immer noch unbeantwortet. Wir sprechen nicht davon, und auch nicht von der Untersuchung, die dann folgte.
    Ich habe nur die Wahrheit zu bieten. »Ja, aber nur schwach. Und du?«
    Sie zögert, bevor sie etwas sagt, fährt aber unbeirrt fort, mein Haar zu bürsten. »Ich glaube schon. Aber nur in kurzen Momenten, wie ein Aufblitzen. Ich frage mich oft, warum ich mich an ihr grünes Kleid erinnere, aber nicht daran, wie ihre Stimme klang, wenn sie uns vorlas. Warum ich deutlich den Gedichtband vor mir sehen kann, der immer auf ihrem Tisch im Salon lag, aber nicht mehr weiß, wie sie roch.«
    »Sie roch nach Jasmin und … Orangen, glaube ich.«
    »Tatsächlich?« Ihre Stimme hinter mir ist nur ein Murmeln. »Das wusste ich nicht.«
    Ich rücke ein wenig von ihr ab. »Jetzt bin ich an der Reihe.«
    Sie dreht sich um, so gehorsam wie ein Kind. »Lia?«
    »Ja?«
    »Wenn du etwas wüsstest, über Mutter … wenn du dich
an etwas erinnern könntest, an etwas Wichtiges … würdest du es mir sagen?« Ihre Stimme ist leise. Es liegt eine Unsicherheit darin, die ich von meiner Schwester nicht gewohnt bin.
    Mein Atem verfängt sich in meiner Kehle, scheinbar erdrückt von der merkwürdigen Frage. »Ja, natürlich, Alice. Du nicht?«
    Sie zögert. Das einzige Geräusch im Raum ist das sanfte, kaum hörbare Knistern der Bürste, die durch seidiges Haar gleitet.
    »Ich denke schon.«
    Ich ziehe die Bürste durch ihr Haar und erinnere mich. Nicht an meine Mutter. Nicht jetzt. Sondern an Alice. An uns. An die Zwillinge. Ich erinnere mich an die Zeit, bevor Henry geboren wurde, bevor meine Mutter in dem dunklen Zimmer Zuflucht suchte. An die Zeit, bevor Alice sich vor mir zurückzog und mir fremd wurde.
    Es wäre ein Leichtes, auf unsere Kindheit zurückzublicken und zu behaupten, dass Alice und ich einander nahestanden. Verklärt durch die vergangenen Jahre, erinnere ich mich an ihren sanften Atem in der Nacht, ihre Stimme, die murmelnd die Dunkelheit in unserem gemeinsamen Kinderzimmer durchdrang. Ich versuche, unsere Nähe als Trost zu betrachten, versuche, die Gewissheit zu verdrängen, dass wir schon damals verschieden waren. Aber es geht nicht. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass wir uns seit jeher misstrauisch beäugen. Dennoch - einst war es ihre weiche Hand, die ich vor dem Einschlafen umschloss,
ihre Locken, die ich von meiner Schulter strich, wenn sie im Schlaf zu nah bei mir lag.
    »Danke, Lia.« Alice wendet sich um und schaut mir in die Augen. »Ich vermisse dich, weißt du?«
    Meine Wangen werden unter ihrem hartnäckigen, prüfenden Blick warm. Ihr Gesicht ist meinem ganz nah. »Ich bin hier, Alice, wo ich immer war.«
    Sie lächelt, aber in ihrem Lächeln liegt etwas Trauriges, Wissendes. Sie beugt sich vor und schlingt ihre dünnen Arme um meinen Körper, wie früher, als wir noch Kinder waren.
    »Und ich auch, Lia. Auch ich bin hier, wo ich immer war.«
    Sie steht auf und geht ohne ein weiteres Wort. Ich sitze im Dämmerlicht auf der Bettkante und versuche, mir ihre ungewöhnliche Traurigkeit zu erklären. Nachdenklichkeit liegt sonst nicht in der Natur meiner Schwester, aber vermutlich fühlen wir uns alle wegen Vaters Tod irgendwie verletzlich.
    Die Gedanken an Alice zögern den Moment hinaus, in dem ich mir mein Handgelenk anschauen muss. Ich komme mir vor wie ein Feigling, weil ich allen Mut zusammennehmen muss, um den Ärmel meines Nachthemds hochzuschieben. Um das Zeichen zu betrachten, dass erschien, nachdem mein Vater im dunklen Zimmer den Tod gefunden hatte.
    Als ich es endlich tue - wobei ich mir einrede, dass es egal ist, ob ich nachschaue oder nicht, weil sich dadurch
an der Existenz des Zeichens nichts ändern wird -, muss ich mich zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien. Nicht das
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