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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht
Autoren: Andreas Laudan
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••• 19   :   30 ••• TIA •••
    Die Felswand war so steil, dass sie nahezu senkrecht zur Decke hinaufführte. Ihre zerklüftete Oberfläche fühlte sich spröde an. Die zahlreichen Vorsprünge, die aus dem Gestein ragten, hätten einen unerfahrenen Kletterer leicht zu tödlichen Fehlern verleitet, denn sie schienen sich als Trittstufen geradezu anzubieten. Doch Tia Traveen wusste, dass der Hang mit Kalktuff bedeckt war, einem trügerischen Material, durchsetzt von Millionen feiner Bläschen und Hohlräume. Jeder Vorsprung, an dem sie sich festklammerte, konnte zu feinem Staub zerbröseln, jede Felszacke unter ihren Füßen wegbrechen.
    Während sie auf halber Höhe an der Klippe hing, ertastete sie mit äußerster Vorsicht die Umgebung, stets bemüht, ihr Gewicht nicht allzu plötzlich zu verlagern. Sie fand einen Felsspalt, etwa eine Armlänge über ihrem Kopf, und prüfte seine Stabilität, indem sie die Ränder mit dem Fingerknöchel abklopfte. Dann erst zog sie einen Klemmkeil aus dem Gürtel, drückte ihn in den Spalt und ließ ihn einrasten.
    «Wie kommst du voran?», fragte eine vertraute Stimme an ihrem linken Ohr. Sie drang aus dem Headset, das Tia wie üblich unter ihrem Helm trug. Leon, ihr Partner, stand nur sechs Meter unter ihr am Fuß der Felswand, doch es war einfacher, sich per Funk zu unterhalten, als ständig hinauf- und hinabzurufen.
    «Ganz gut», antwortete Tia, während sie das Sicherungsseil durch die Schlaufe des Klemmkeils zog. «Im Grunde ein simpler Vorstieg – nichts, was ich nicht schon hundertmal gemacht hätte. Nur die Beschaffenheit der Wand erschwert die Sache.Der Kalkstein ist beinahe so löchrig wie dieses ‹Basler Brot› heute Mittag.»
    Leon lachte. «Tut mir leid, dass dir die Landesküche nicht zusagt! Wenn du willst, gehen wir heute Abend ins Hotelrestaurant und lassen uns zur Feier des Tages mit internationalen Spezialitäten bedienen.»
    «Das wäre toll! Aber schauen wir erst mal, ob es überhaupt etwas zu feiern gibt.»
    Tia ertastete den nächsten Felsvorsprung, prüfte seine Tragfähigkeit und zog sich eine Handbreit aufwärts. Die Nische knapp unter der Decke, auf die sie zusteuerte, war nicht mehr weit entfernt.
    Wenn ich tatsächlich ein Exemplar des Pseudoskorpions finde, dachte sie, wäre das eine Feier wert. Am besten ein Weibchen – was sich leider erst im Labor nachweisen lassen würde.
    Der winzige Pseudoskorpion, ein wenige Millimeter großes Tier, war bisher nur hier im Hölloch gefunden worden, dem zweitgrößten Höhlensystem Europas. Nach wie vor galt er als wissenschaftliche Sensation – und das einzige bislang geborgene Exemplar, das im Genfer Naturkundemuseum in Alkohol schwamm, war ein Männchen.
    Tia befestigte eben den nächsten Keil, als ihr sensibles Gehör Schritte in einiger Entfernung ortete. Offenbar näherten sich mehrere Menschen der unterirdischen Halle, die abseits der öffentlichen Führungswege lag.
    «Wir bekommen Gesellschaft», meldete Leon.
    «Ich hör’s. Wahrscheinlich Abenteuer-Touristen auf Abwegen.»
    Selbst aus dieser Höhe konnte Tia die Geräusche der Besucher wahrnehmen: Ein Scharren von unzweckmäßigen Straßenschuhen, Rascheln von Polyesterstoff, leises Gemurmel und das feine Sirren einer tragbaren LE D-Leuchte .
    «Hallo!», begrüßte Leon die Fremden.
    «Salü!», gab einer von ihnen salopp zurück. «Na, was macht ihr hier?»
    «Nur ’ne kleine Klettertour», sagte Leon. Tia erriet, dass er seine Lampe hob und zu ihr hinaufdeutete. Die Touristen – sie schätzte, dass es vier oder fünf junge Männer waren – brachen in lautes Johlen und Pfeifen aus.
    «Wow! Sexy!»
    Tia verdrehte die Augen. Der Kommentar bezog sich wohl auf ihren Höhlenanzug, eine Spezialanfertigung, die Arme und Beine frei ließ und für sehende Augen am ehesten mit einem einteiligen Badeanzug vergleichbar war.
    «Hoi Maitli!», rief einer der jungen Leute in breitem Schweizerdeutsch zu ihr nach oben. «Wozu brauchsch denn ein Seil? Hier kann man auch ohne kräxle!»
    Ihr blutigen Anfänger bestimmt nicht!, dachte Tia.
    «Einer der Kerle scheint dir nachklettern zu wollen», informierte Leon sie.
    «Um Himmels willen!» Tia erschrak. «Sag ihm, dass er sein Leben riskiert, wenn er hier ohne Seil und Haken hochsteigt!»
    Undeutliches Stimmengewirr drang zu Tia herauf. Sie hörte den jungen Mann lachen.
    «Zwecklos», meldete Leon schließlich. «Der Kerl lässt sich nicht abhalten. Er wettet sogar, dass er ohne Seil schneller
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