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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht
Autoren: Andreas Laudan
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bedrückende Gefühl beherrschen können, aber jetzt, in der Stille, kroch die Angst in ihr empor. Schon immer hatte sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet, und der rötliche Schein der Karbidlampe, der gespenstisch auf den kahlen Wänden der Kammer lag, trug kaum zu ihrer Beruhigung bei. Schatten brüteten in den Ecken, und der Zugang zu dem toten Gang im Hintergrund gähnte wie ein aufgesperrter Rachen.
    Dana schauderte. Wenn sie allein gewesen wäre, hätte sie sich ausgemalt, dass aus dieser schwarzen Öffnung Hände nach ihr griffen oder Geräusche hervordrangen, als krieche etwas Großes, Unförmiges auf sie zu – etwas, dessen gieriger Atem hörbar schnaufte und dessen Krallen leise über den Boden schabten. Es fiel ihr schwer, solche Vorstellungen zu verdrängen und einigermaßen die Nerven zu behalten, wenn nicht jeder Winkel ihrer näheren Umgebung hell erleuchtet war.
    Was für eine saublöde Idee, dachte sie, den Blick auf Justin gerichtet, der neben ihr friedlich schlummerte. Was hatte er sich bloß dabei gedacht, hier herunterzusteigen?
    Sie kannte die Vorliebe ihres Freundes für gewagte Unternehmungen. Tatsächlich hatte sie sich nicht zuletzt deshalb in ihn verliebt. Justin war immer der Erste, wenn es darum ging,etwas Heikles auszuprobieren, und oft riss sein Elan sie mit. Ohne ihn hätte sie es nie gewagt, eine Achterbahn zu besteigen, bei Nacht im Baggersee zu schwimmen oder diese berühmte Frankfurter Szenekneipe aufzusuchen, in der Fernsehstars ein und aus gingen. Für ihn war die Welt ein bunter Rummelplatz voller Verlockungen und Abenteuer. Manchmal freilich ging er zu weit – insbesondere, wenn es sich um Drogen handelte oder um das Autofahren ohne Führerschein. Gelegentlich konnte Dana ihn von solchen Aktionen abbringen. Diesmal jedoch hatte er ihr keine Chance gelassen, sondern seine Absicht bis zur letzten Minute verschwiegen. Er hatte nur von einem Picknick im Naturschutzgebiet gesprochen, geheimnisvoll gelächelt – und dann zielsicher das alte Bergwerk angesteuert.
    Mama würde ausrasten, wenn sie wüsste, wo ich bin, dachte Dana.
    Der Gedanke steigerte ihr Unbehagen. Im Geist hörte sie die besorgte Stimme ihrer Mutter: «Geh abends nicht alleine raus! Halt dich vom Stadtpark und vom Bahnhof fern! Geh nirgendwohin, wo es dunkel ist und komische Leute herumlungern. Du hast keine Ahnung, wie es in der Welt zugeht!»
    Gewöhnlich verdrehte Dana bei diesen Predigten die Augen. Inzwischen wusste sie längst mehr von der Welt als ihre Mutter, die von so vielen Ängsten geplagt wurde, dass sie das Haus nur zur Arbeit und zum Einkaufen verließ – stets bewaffnet mit Desinfektionstüchern wegen «gefährlicher Bakterien», Pfefferspray und einer Trillerpfeife zum Abschrecken von Vergewaltigern. Altersgemäße Freiheiten hatte Dana sich nur mit viel Geduld erkämpfen können. Immerhin durfte sie mittlerweile bis zehn Uhr abends fortbleiben und auch einmal «bei einer Freundin» übernachten – eine Ausrede, die sie gewöhnlich vorschob, um die Nacht mit Justin verbringen zu können.
    Im Augenblick jedoch, tief unter der Erde in einer schummrigbeleuchteten Steinkammer, erschienen Dana die Unheilsprophezeiungen ihrer Mutter gar nicht so abwegig, und sie hätte einiges darum gegeben, sich rasch nach Hause teleportieren zu können.
     
    «Justin?»
    Sie rüttelte ihn an der Schulter, doch er grunzte nur im Schlaf und warf den Kopf auf die andere Seite. Danas Blick fiel auf seine Armbanduhr.
    Mein Gott, dachte sie erschrocken. Haben wir zwei volle Stunden lang hier unten geschlafen?
    Offenbar war es keine gute Idee gewesen, Alkohol und Dope zu kombinieren, schon gar nicht in dieser schlecht belüfteten Kammer. Fröstelnd setzte Dana sich auf und bemerkte, dass auch Finn sich regte. Er blinzelte, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und blickte benommen zu ihr herüber.
    «Dana! Was ist los? Sind wir eingeschlafen?»
    «Scheint so», nickte Dana.
    «Wie spät ist es?»
    «Viertel nach acht.»
    Erschrocken setzte Finn sich auf.
    «Im Ernst?»
    «Wir sollten die anderen wecken, sonst erfrieren wir hier unten noch.»
    «Laura?» Finn wandte sich seiner Freundin zu, doch sie stöhnte nur, ohne die Augen zu öffnen, und schob fahrig seine Hand beiseite.
    «Auweia.» Resigniert ließ Finn von ihr ab und rieb sich fröstelnd die Arme. «Das Dope war wohl doch zu viel.»
    Dana nickte besorgt.
    «Was würde ich für einen Heizlüfter geben!», seufzte Finn, der sich in dem kahlen Raum umsah. «Und
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