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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht
Autoren: Andreas Laudan
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oben ist als du.»
    «Aber das ist doch Wahnsinn!»
    Tia zog das Sicherungsseil durch die Schlaufe des Klemmkeils und lauschte angespannt. Unter sich hörte sie nun deutlich das Schnaufen des jungen Mannes, der mit der Geschwindigkeit eines Affen den steilen Abhang erkletterte. Tia roch seinen Schweiß, der mit seiner Körperwärme zu ihr heraufstieg. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig, schlank, athletisch gebaut.Eine gewisse Erfahrung besaß er ohne Zweifel, wahrscheinlich im Sportklettern über Tage, aber mit den besonderen Bedingungen in einer Höhle kannte er sich nicht aus – sonst wäre er kaum so leichtsinnig gewesen.
    «Hoi!», rief er ihr zu, als er auf gleicher Höhe angekommen war. «Ich bin Daniel. Wie heißt du?»
    Doch Tia schien die Situation zu absurd für Plaudereien.
    «Du riskierst dein Leben!», versuchte sie ihm klarzumachen. «Der Hang besteht aus Kalktuff! Das Zeug kann leicht wegbrechen – verstehst du?»
    Aber der Junge lachte und kletterte weiter. Offenbar hatte er den Hohlraum in der Felswand entdeckt, auf den Tia zusteuerte, eine traubenförmige Kaverne knapp unterhalb der Decke.
    «Pass auf!», schrie sie.
    Doch es war schon zu spät. Daniel hatte den Fuß auf einen terrassenförmigen Sims gesetzt, der mit einem trockenen Knirschen zerbrach. Eine Lawine aus Geröll regnete hinab. Der junge Mann schrie erschrocken auf, verlor den Halt und rutschte ein Stück an der Klippe herab.
    Tia sprang das Herz in die Kehle. Zwar konnte sie nichts sehen, doch ihre übrigen Sinne waren binnen einer Schrecksekunde bis zum Äußersten geschärft, registrierten jedes Geräusch, jeden Luftzug, jede Erschütterung des Gesteins. Sie konnte sich die Situation ohne Mühe ausmalen: Daniel hing mit beiden Händen an irgendeinem brüchigen Vorsprung. Wenn er losließ, würde er sechs Meter tief stürzen – genug, um sich sämtliche Knochen zu brechen.
    «Hilfe!»
    Seine Stimme war etwa zwei Meter entfernt und bebte vor Todesangst.
    So ein verdammter Idiot!, dachte Tia.
    «Er kann jeden Moment abstürzen!», drang Leons erregteStimme an ihr Ohr. «Was tun wir denn jetzt? Soll ich raufkommen?»
    «Nein, bleib, wo du bist!», befahl Tia. «Ich werde versuchen, zu ihm rüberzuklettern und ihn an unsere Sicherheitsleine zu hängen.»
    «Sei bloß vorsichtig! Genau zwischen euch ist eine Spalte in der Wand!»
    «Ich weiß», bestätigte Tia, die bereits einen Arm ausgestreckt und die Verwerfung im Fels ertastet hatte. Es würde gefährlich werden – auch für sie. Vorsichtig schob sie sich zur Seite, überquerte einen schmalen Grat und suchte nach einer geeigneten Stelle für den nächsten Klemmkeil.
    «Schnell!», schrie Daniel, dessen Stimme vor Panik flatterte. «Ich kann mich nicht mehr halten!»
    «Es geht nicht schneller!», gab Tia ärgerlich zurück.
    Hättest du es nicht so eilig gehabt, dachte sie, dann müsste ich jetzt nicht meinen Hals für dich riskieren!
    Sie setzte den Keil, zog das Seil durch die Schlaufe und schob sich zentimeterweise weiter nach rechts. Als sie endlich den Felsvorsprung ertasten konnte, an dem der junge Mann sich festklammerte, verflog ihr Ärger und machte einer Welle des Mitgefühls Platz. Daniels Hände waren schweißnass, und seine Unterarme bebten unter der Anstrengung, das Gewicht seines Körpers zu tragen.
    «Bitte!»,
stieß er hervor, mehr ein gepresstes Keuchen als ein Schrei.
    «Keine Angst! Ich bin ja da.» Tia trat mit den Zehenspitzen auf einen schmalen Steinhöcker und hoffte inständig, dass er nicht wegbrechen würde. Mit der freien Hand tastete sie über den Körper des Jungen, der wie erwartet kein Klettergeschirr trug. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als den Karabiner in seine Gürtelschnalle zu klinken.
    «Halt still!»
    Einige schrecklich lange Sekunden mühte sie sich, bis es ihr gelang, den Karabiner einzuhaken.
    «Leon?», sagte sie aufatmend ins Mikrofon. «Greif dir die Jungs da unten! Sie sollen alle die Sicherheitsleine festhalten.»
    «Okay!»
    Tia wartete, bis das Seil unter ihren Händen fest gespannt war. Dann tastete sie nach Daniels Gesicht und strich ihm tröstend über die Wange.
    «Es kann nichts mehr passieren! Lass los!»
    Sie erriet, dass er sie ungläubig anstarrte.
    «Lass los, Daniel!», rief einer seiner Kameraden von unten.
    Es dauerte eine Weile, bis der Junge sich überwinden konnte, seinen Halt an der Wand aufzugeben. Als er endlich losließ und einen halben Meter hinabstürzte, schrie er schrill, ohne sich beherrschen zu
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