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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Autoren: Michelle Zink
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    D er Regen scheint mir angemessen; vielleicht beachte ich ihn deswegen nicht. Er strömt wie ein dichter Vorhang aus silbrigen Fäden auf den frühwinterlichen Boden nieder. Nichtsdestotrotz stehe ich bewegungslos neben dem Sarg.
    Ich stehe rechts von Alice. Ich stehe immer rechts von Alice, und oft frage ich mich, ob es auch im Leib unserer Mutter so war, ehe wir schreiend in die Welt hinausgepresst wurden, eine nach der anderen. Mein Bruder Henry sitzt zwischen Edmund, unserem Chauffeur, und Tante Virginia. Henry kann nur sitzen; seine Beine sind nutzlos. Es kostete einige Mühe, Henry und seinen Stuhl zu dem Friedhof auf dem Hügel zu tragen, damit er unserem Vater das letzte Geleit geben kann.
    Tante Virginia beugt sich vor und spricht uns durch den trommelnden Regen an. »Kinder, wir müssen gehen.«
    Der Reverend ist längst fort. Ich kann nicht sagen, wie lange wir schon hier vor diesem Hügel aus Dreck verharren,
wo der Körper meines Vaters liegt, denn ich stehe unter James’ Regenschirm, der mir wie eine kleine, schützende Welt vorkommt, ein Prellbock zwischen mir und der Wahrheit.
    Alice bedeutet uns zu gehen. »Lia, Henry, kommt jetzt. Wir kehren zurück, wenn die Sonne scheint. Dann legen wir frische Blumen auf Vaters Grab.« Ich bin es, die zuerst geboren wurde, wenn auch nur wenige Minuten, aber niemand hat je daran gezweifelt, dass Alice das Sagen hat.
    Tante Virginia nickt Edmund zu. Er nimmt Henry in seine Arme, dreht sich um und geht zum Haus zurück. Über Edmunds Schulter hinweg fängt Henry meinen Blick ein. Henry ist erst zehn, aber er ist viel klüger als die meisten Jungen in seinem Alter. Ich sehe den Verlust unseres Vaters in den dunklen Ringen unter meines Bruders Augen. Ein schmerzhafter Stich dringt durch die Taubheit in meinem Körper und lässt sich irgendwo über meinem Herzen nieder. Alice mag das Sagen haben, aber ich bin diejenige, die sich schon immer für Henry verantwortlich fühlte.
    Meine Füße wollen sich nicht rühren, wollen mich nicht von meinem Vater wegführen. Sie stehen kalt und tot auf der Erde. Alice schaut zurück. Durch den Regen schaut sie mich an.
    »Ich komme gleich nach.« Ich muss rufen, damit sie mich hört, und sie nickt langsam, wendet sich um und läuft den Weg entlang zurück zu Birchwood Manor.
    James nimmt meine behandschuhte Hand in seine. Ich
spüre, wie mich eine Welle der Erleichterung durchfährt, als sich seine starken Finger über meiner Hand schließen. Er rückt näher, damit ich ihn im tosenden Regen verstehen kann.
    »Ich bleibe bei dir, so lange du willst, Lia.«
    Ich kann nur nicken, schaue zu, wie der Regen in Tränen über Vaters Grabstein fließt. Ich lese die Worte, die in den Granit gemeißelt sind.
     
    THOMAS EDWARD MILTHORPE GELIEBTER VATER
    23. JUNI 1846 - 1. NOVEMBER 1890
     
    Keine Blumen. Trotz meines Vaters Reichtum ist es so gut wie unmöglich, um diese Jahreszeit - kurz vor Wintereinbruch - im Norden von New York, wo wir zu Hause sind, Blumen aufzutreiben. Und keiner von uns hatte die Kraft oder den Willen, rechtzeitig welche zu bestellen. Plötzlich schäme ich mich wegen dieser Nachlässigkeit, und ich schaue mich auf dem Friedhof unserer Familie nach etwas um, nach irgendetwas, das ich auf das Grab legen könnte.
    Aber da ist nichts. Nur einige kleine Steine in den Pfützen auf der Erde und dem Gras. Ich bücke mich, greife nach ein paar schmutzigen Kieseln und halte sie so lange auf meiner offenen Handfläche in den Regen, bis sie sauber gewaschen sind.
    Ich bin nicht überrascht, dass James genau weiß, was ich vorhabe, obwohl ich kein Wort sage. Wir sind schon unser
ganzes Leben lang Freunde - und seit kurzer Zeit noch mehr als das. Er rückt nach, beschützt mich mit seinem Regenschirm, als ich vortrete, mich bücke und die kleinen Steine aus meiner Hand zu Füßen von Vaters Grabstein fallen lasse.
    Bei der Bewegung schiebt sich mein Ärmel zurück und entblößt ein Stück jenes merkwürdigen Zeichens, dieses seltsamen, zerklüfteten Kreises, der in den Stunden nach Vaters Tod auf meinem Handgelenk erblühte. Ich werfe James einen verstohlenen Blick zu, um zu ergründen, ob er etwas bemerkt hat. Aber das ist nicht der Fall. Ich ziehe meinen Arm in den Ärmel zurück und lege die Steine zu einer ordentlichen Reihe. Das rätselhafte Zeichen verbanne ich aus meinen Gedanken. Dort ist kein Platz für Trauer und Sorge. Und die Trauer will nicht warten.
    Ich trete zurück und betrachte die Steine. Sie
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