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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Autoren: Michelle Zink
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immer wie ein exotisches Tier in einem Schaukasten fühle. Wenn ich sie in der Schule beobachte, wie sie unter den Schmeicheleien der höflichen Gesellschaft aufblüht, stelle ich mir vor, dass sie unserer Mutter ähnlich ist. Es stimmt vermutlich. Während ich Vergnügen an der Stille in Vaters Bibliothek empfinde, kann nur Alice ihre Augen funkeln lassen wie unsere Mutter.
     
    Wir verbringen den Tag in nahezu vollkommener Stille, in Gesellschaft des leise knisternden Kaminfeuers. Wir sind an die Einsamkeit in Birchwood gewöhnt und haben gelernt, uns innerhalb der düsteren Mauern selbst zu beschäftigen.
Es ist wie an jedem anderen regnerischen Tag, nur dass die laut dröhnende Stimme unseres Vaters fehlt, die oft aus der Bibliothek drang, und der Geruch seines Pfeifentabaks. Wir sprechen nicht über ihn, noch über seinen rätselhaften Tod.
    Ich vermeide es, auf die Uhr zu schauen. Ich fürchte das behäbige Fortschreiten der Zeit, das umso langsamer erscheint, je öfter ich es beobachte. Und ich habe Erfolg. Der Tag vergeht schneller, als ich es erwartete. Die kurzen Unterbrechungen durch die Mahlzeiten schieben mich sanft auf die Stunde zu, in der ich mich in die Leere des Schlafs flüchten kann.
    Diesmal schaue ich vor dem Zubettgehen nicht auf mein Handgelenk. Ich will nicht wissen, ob das Zeichen noch da ist. Ob es sich verändert hat. Ob es tiefer oder dunkler geworden ist. Ich schlüpfe unter die Decke und versinke ohne einen weiteren Gedanken in der Dunkelheit.
    In befinde mich in diesem Zwischenraum, an jenem Ort, zu dem wir gleiten, ehe die Welt in Schlaf zerfällt, als ich das Flüstern höre. Zunächst ist es nur mein Name, mit dem mich die Stimme aus der Ferne lockt. Aber das Flüstern schwillt an, teilt sich in viele Stimmen, die alle hektisch murmeln, so schnell, dass ich nur gelegentlich ein einzelnes Wort erhasche. Das Flüstern wird stärker und stärker, verlangt nach meiner Aufmerksamkeit, bis ich es nicht länger missachten kann. Bis ich kerzengerade in meinem Bett sitze und die letzten geflüsterten Worte in den Höhlen meines Geistes widerhallen.

    Das dunkle Zimmer.
    Es kommt nicht gänzlich überraschend. Das dunkle Zimmer schwirrt mir im Kopf herum, seit Vater starb. Er hätte nicht dort sein sollen. Nicht ausgerechnet in dem Raum, der mehr als jeder andere die Erinnerung an meine Mutter wachruft, seine geliebte, tote Gemahlin.
    Und doch - in jenen letzten Momenten, ehe das Leben wie ein Hauch aus seinem Körper entwich, war er dort.
    Ich schiebe meine Füße in die Pantoffeln und schleiche zur Tür, lausche einen Moment lang, bevor ich sie öffne und in den Korridor hinausschaue. Das Haus ist dunkel und still. Weder über mir in den Dienstbotenquartieren noch unten in der Küche ist das leiseste Geräusch zu hören. Es muss ziemlich spät sein.
    All dies mache ich mir in wenigen Sekunden bewusst, ohne wirklich darüber nachzudenken. Was meine ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkt, was mir die Haare auf meinen Armen und in meinem Nacken zu Berge stehen lässt, ist die Tür am Ende des Korridors, die einen kleinen Spalt offen steht.
    Die Tür zum dunklen Zimmer.
    Es ist merkwürdig genug, dass ausgerechnet die Tür zu diesem Raum geöffnet ist, aber noch merkwürdiger ist der sanfte Lichtschimmer, der durch den Spalt scheint.
    Ich schaue nach unten auf das Zeichen. Es beschattet mein Handgelenk, selbst in der Dunkelheit des Korridors. Das ist die Frage, die ich mir die ganze Zeit gestellt habe, nicht wahr? , denke ich. Ob der Schlüssel zu dem rätselhaften
Tod meines Vaters und der Grund für das Zeichen auf meinem Handgelenk im dunklen Zimmer zu finden sind. Jetzt ist mir, als rufe man mich genau zu diesem Ort, um mir die Antworten zu geben, nach denen mich so verlangt.
    Langsam gehe ich durch den Korridor, hebe sorgsam die Füße, damit die Sohlen meiner Pantoffeln nicht über die Holzdielen schaben. Vor der Tür ins dunkle Zimmer bleibe ich stehen.
    Jemand ist drinnen.
    Eine Stimme, leise aber drängend, kommt aus dem Zimmer. Es ist nicht das hektische Murmeln, das mich hierher rief, nicht das Wirbeln und Wimmeln von unzähligen Stimmen. Nein. Es ist die Stimme einer einzelnen Person. Einer Person, die im dunklen Zimmer flüstert.
    Ich wage es nicht, die Tür aufzuschieben, aus Angst, dass sie ein Geräusch verursachen könnte. Stattdessen lehne ich mich dagegen, spähe durch die Öffnung in den Raum dahinter. Es ist schwierig, durch den schmalen Spalt etwas zu erkennen. Zunächst
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