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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Autoren: Michelle Zink
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Kleider, ein Umhang, vier Korsetts. Was immer meinen Vater in dieses Zimmer trieb, bleibt genauso unerklärlich wie der Grund für Alices Anwesenheit
vergangene Nacht und für den Sog, der mich heute hierher führte.
    Wieder mache ich einen Bogen um den Läufer und gehe zur Tür, so schnell ich kann. Ich habe Mühe, nicht in einen Laufschritt zu fallen. Je mehr Abstand ich zwischen mich und den Läufer bringe, zwischen mich und den Kreis, umso besser fühle ich mich, wenn ich auch noch nicht wieder vollständig ich selbst bin.
    Ich ziehe die Tür hinter mir lauter als nötig zu. Dann lehne ich mich gegen die Wand und schlucke die Galle hinunter, die mir die Kehle hinaufgestiegen ist. Ich weiß nicht, wie lange ich hier stehe, nach Atem ringend und darum kämpfend, dass mein Körper mir gehorcht. Aber während der ganzen Zeit ist mein Geist von düsteren und angsterregenden Gedanken erfüllt.

3
     
     
     
     
    D er Tag ist wie ein Diamant, herrlich warm, doch ohne die Hitze, die einen Aufenthalt im Freien lästig macht. Henry sitzt mit Edmund am Ufer des Flusses. Es ist einer von Henrys Lieblingsplätzen, und obwohl ich damals noch klein war, kann ich mich noch gut daran erinnern, wie der sanft abfallende Weg gepflastert wurde, der fast bis ans Wasser führt. Mein Vater ließ ihn erbauen, als Henry noch ein Baby war. Schon damals liebte er das Geräusch der Steine, die man ins Wasser wirft. Edmund und Henry sind oft in der Nähe der Terrasse zu finden, wo das Wasser wild und rauschend in seinem Bett strömt. Dort werfen sie Steinchen hinein und schließen ihre kleinen heimlichen Wetten ab, die ihnen zwar verboten sind, von Tante Virginia aber geflissentlich übersehen werden.
    Ich umkreise das Haus und bin erleichtert, als ich Alice auf der Veranda vor dem Wintergarten sitzen sehe. Neben der weiten, offenen Landschaft, die das Haus von allen Seiten umgibt, hält sie sich am liebsten in dem gläsernen
Wintergarten auf, doch der ist von November bis März wegen der Kälte abgeschlossen. Während dieser Monate sitzt sie gern auf der Veranda auf einem der Liegestühle, eingewickelt in eine Decke, selbst an Tagen, die nach meinem Empfinden ungemütlich kalt sind.
    Sie hat die Beine ausgestreckt, und unterhalb ihrer Rockkante sind die Strümpfe zu sehen, was überall außerhalb der Grenzen von Birchwood ein Affront gewesen wäre. Ihr Gesicht, weich und entspannt - so ganz anders als letzte Nacht -, reckt sich der Sonne entgegen. Die Augen hat sie geschlossen. Der Anflug eines Lächelns spielt um ihre Lippen, und die Mundwinkel sind leicht nach oben gezogen, ob aus Hinterlist oder innerem Frieden, vermag ich nicht zu sagen.
    »Warum stehst du da und starrst mich an, Lia?«
    Beim Klang ihrer Stimme zucke ich zusammen. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich nicht. Immer noch sind ihre Augen geschlossen. Ich habe kein Geräusch gemacht, blieb auf dem Rasen stehen, unterhalb der Steinstufen, auf denen die Sohlen meiner Stiefel mich verraten hätten. Und trotzdem weiß sie, dass ich da bin.
    »Ich starre dich nicht an, Alice. Ich betrachte dich nur. Du siehst so glücklich aus.« Meine Stiefelabsätze klappern auf dem Steinboden der Veranda, während ich auf sie zugehe, und ich bemühe mich, den vorwurfsvollen Ton, der drauf und dran ist, sich in meine Stimme zu schleichen, zu unterdrücken.
    »Warum sollte ich nicht glücklich sein?«

    »Ich frage mich, wie du glücklich sein kannst, Alice? Wie kannst du nur in einer solchen Zeit Glück empfinden?« Mein Gesicht brennt vor Wut, und plötzlich bin ich froh, dass sie noch immer nicht ihre Augen geöffnet hat.
    Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, schlägt sie die Augen auf und schaut mich unbekümmert an. »Vater ist nicht mehr länger in der irdischen Welt, Lia. Er ist im Himmel, bei unserer Mutter. Ist es nicht das, wonach er sich gesehnt hat?«
    Etwas in ihrem Gesicht verunsichert mich; dieser Ausdruck von Glück und Frieden so kurz nach dem Tod unseres Vaters ist ganz und gar falsch .
    »Ich … ich weiß nicht. Wir haben bereits Mutter verloren. Ich bilde mir ein, dass Vater gerne geblieben wäre und für uns gesorgt hätte.« Jetzt, da ich die Worte ausgesprochen habe, klingen sie in meinen Ohren kindisch, und nicht zum ersten Mal denke ich, dass Alice die Stärkere von uns beiden ist.
    Sie neigt den Kopf in meine Richtung. »Ich bin sicher, dass er über uns wacht, Lia. Und außerdem: Was müssen wir fürchten? Wovor müssten wir denn beschützt werden?«
    Ich kann
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