Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Autoren: Michelle Zink
Vom Netzwerk:
die Worte fühlen, die sie ungesagt lässt. Ich weiß nicht, was für Worte es sind, aber sie rühren an eine merkwürdige Düsternis, und ganz plötzlich habe ich Angst. Ganz plötzlich weiß ich, dass ich Alice nicht fragen werde, was sie im dunklen Zimmer gemacht hat, und ich werde ihr auch das Zeichen nicht zeigen, obwohl ich für
meine Entscheidung keinen einzigen Grund zu nennen weiß.
    »Ich fürchte mich nicht, Alice. Ich vermisse ihn, das ist alles.«
    Sie antwortet nicht, schließt nur wieder die Augen und wendet das Gesicht der Sonne zu. Der friedliche Ausdruck kehrt auf ihr Gesicht zurück. Es gibt nichts mehr zu sagen, also drehe ich mich um und gehe.
    Zurück im Haus, folge ich dem Klang von Stimmen bis in die Bibliothek. Ich kann die Worte nicht verstehen, aber es sind Männerstimmen, und ich lausche ihnen eine Weile, genieße die Vibration dieser tiefen Tonlage, ehe ich die Tür öffne. James schaut auf, als ich eintrete.
    »Guten Morgen, Lia. Wir haben doch wohl nicht zu viel Lärm gemacht, oder doch?« In seiner Begrüßung liegt ein drängender Unterton, und ich weiß sofort, dass er unter vier Augen mit mir sprechen will.
    Ich schüttele den Kopf. »Nein, gar nicht. Es ist schön, wenn in Vaters Arbeitsräumen wieder Leben einkehrt.« Mr Douglas betrachtet durch die Lupe den Einband eines dicken braunen Buchs. »Guten Morgen, Mr Douglas.«
    Er schaut auf und blinzelt, als hätte er einen Fremdkörper im Auge. Dann nickt er freundlich. »Guten Morgen, Amalia. Wie geht es dir heute?«
    »Mir geht es gut, Mr Douglas, danke. Und Dank auch dafür, dass Sie mit dem Katalogisieren von Vaters Sammlung fortfahren. Es würde ihn glücklich machen zu sehen, dass sein Werk fortgesetzt wird.«

    Er nickt wieder, ohne zu lächeln, und im Raum macht sich das Schweigen von Freunden breit, die ihre Trauer miteinander teilen. Ich bin erleichtert, als sich Mr Douglas wieder der Arbeit zuwendet, zur Seite schaut und dann nach etwas kramt, das er anscheinend verlegt hat.
    »Hmm … wo ist denn bloß dieses verflixte Hauptbuch?« Immer hastiger schiebt er Papiere und Dokumente beiseite. »Ach, ich glaube, ich habe es in der Kutsche liegen gelassen. Ich bin gleich wieder da, James. Mach ruhig weiter.« Er wendet sich ab und marschiert nach draußen.
    James und ich stehen in der Stille, die sein Vater hinterlassen hat. Ich habe schon lange den Verdacht, dass das Katalogisieren der Bibliothek nicht nur wegen der beständigen Neuerwerbungen meines Vaters kein Ende nahm, sondern auch, weil er James und mir die Gelegenheit geben wollte, beisammen zu sein. Genauso wie bei seinen Ansichten über Frauen und Intellekt hatte mein Vater in Bezug auf die Klassentrennung seine eigene Meinung. Unsere Freundschaft mit Mr Douglas und seinem Sohn basiert auf ehrlicher Zuneigung und der gemeinsamen Liebe zu alten Büchern. Obwohl es zweifellos Menschen in unserer Umgebung gibt, die diese Freundschaft für unziemlich halten, ließ sich mein Vater nie von den Vorurteilen anderer beeinflussen.
    James nimmt meine Hand und zieht mich sanft zu sich. »Wie fühlst du dich, Lia? Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?«
    Die Sorge in seiner Stimme, seine ehrliche Betroffenheit,
lassen mir die Tränen in die Augen treten. Unvermittelt durchströmen mich Trauer und Erleichterung zugleich. In der Sicherheit von James’ Gegenwart wird mir die wachsame Anspannung bewusst, die ich Alice gegenüber empfinde.
    Ich schüttele den Kopf und räuspere mich leicht, ehe ich wagen kann zu sprechen. »Nein. Ich glaube, ich brauche einfach Zeit, um mich an Vaters Abwesenheit zu gewöhnen.« Ich versuche, stark zu sein, aber die Tränen tropfen mir auf die Wangen. Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen.
    »Lia. Lia.« Er zieht mir die Hände vom Gesicht und nimmt sie in seine. »Ich weiß, wie viel dir dein Vater bedeutete. Ich weiß, dass ich ihn nicht ersetzen kann, aber ich bin für dich da, wenn du etwas brauchst. Immer.«
    Seine Augen brennen sich in meine und der Wollstoff seiner Weste streift mein Kleid. Eine vertraute Hitzewelle strömt, ausgehend von meinem Bauch, bis in den letzten Winkel meines Körpers und zu all den geheimen Orten, deren Verheißungen noch in der Zukunft liegen.
    Zögernd tritt er zurück, strafft die Schultern und räuspert sich. »Ich wundere mich, dass mein Vater nach so langer Zeit immer noch das Hauptbuch in der Kutsche liegen lässt, aber für uns ist das ein Glück. Komm, ich muss dir etwas zeigen!«
    James zieht mich mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher