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Pilgern auf Französisch

Pilgern auf Französisch

Titel: Pilgern auf Französisch
Autoren: Coline Serreau
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FRÜHMORGENS AM MEER. Rosiger Himmel, Schaumfransen auf dem noch dunklen Wasser, wie gestickt. Solch eine Schönheit, und keiner sieht sie.
    Alle schlafen noch.
    Schritte in der Ferne.
    Ein Schritt nach dem anderen bewegt sich auf einen gelben Briefkasten am Strand zu. In der Ferienzeit nimmt er die Postkarten der Urlauber auf, außerhalb der Saison ist er außer Funktion, keine Post erreicht ihn. Nur heute. Die Schritte nähern sich, eine faltige, müde Hand mit Altersflecken und Krampfadern wirft drei schwarz umrandete Briefe ein, Trauerbriefe, wie man sie früher verschickt hat und die den drei Empfängern mitteilen, dass... Schwärze.
    Die Schritte entfernen sich wieder.
    Die Briefe liegen unten im Briefkasten und warten.
    Die Stille reißt entzwei.
    Nun färbt sich auch das Meer rosig, und keiner sieht es. Die Sonne dieses Tages, noch sanft, noch golden, verbirgt sich hinter Schäfchenwolken.

    Das gelbe Postauto rast heran, bremst scharf vor dem gelben Briefkasten. Keine Zeit zu verlieren, Leute — heute Morgen gibt es viele Kästen zu leeren, und es ist nicht lustig, wenn die Post Verspätung hat.
    Außerhalb der Urlaubszeit liegen nie Sendungen in diesem Kasten.
    Ha, und doch! Drei Briefe. Ja, spinne ich?, fragt sich die Postbeamtin, springt flugs wieder in den kleinen gelben Renault und braust zu anderen Horizonten, anderen Postkästen, ins Briefzentrum, zu den Kollegen, ins pralle Leben eben.
    Jetzt ist der Postkasten leer.
    Die Briefe mit Trauerrand sind unterwegs. '

    Sie gelangen aufs Postamt der Stadt, werden in den Verteilerbach der Bezirksdirektion geschwemmt, der in den Fluss der Regionalverwaltung mündet, und der wiederum ergießt sich in den landesweiten Strom kostbarer Sendungen, die sich die Franzosen tagtäglich zuschicken...
    Millionen Briefe werden versendet und Tag und Nacht zugestellt — mit dem Hochgeschwindigkeitszug, mit dem Fahrrad, dem Handkarren, in Umhängetaschen, gelben Autos, in Sortiermaschinen, Verteilern, Segeltuchtaschen, auf Treppen, in endlosen Briefkastenreihen, durch die Hände der Hauswarte...
    Manche Briefe sagen: Ich liebe dich. Andere: Das bist du mir schuldig. Wieder andere sagen: Sieh mal einer an, nun ist dort jemand von uns gegangen...
    Die Concierge bringt die Post nach oben.
    Ein dicker Läufer, mit glänzenden Messingstäben auf die Stufen gedrückt, verschluckt die Geräusche. Der geschmierte Aufzugsmotor surrt, das schmiedeeiserne Gitter klappert, die verglaste, indirekt beleuchtete Aufzugswand sieht aus wie eine Natursteinmauer, die Fußmatte trägt Initialen.
    Die Männer sind im Geschäft, die Kinder in der Schule, die Haushaltshilfen aus dem Mittelmeerraum bereiten köstliche Speisen zu, wobei sie angehalten sind, allzu strengen Knoblauchgeruch zu vermeiden, die Ehefrauen, umgeben von Polstermöbeln und teurem Nippes, sind damit beschäftigt, ihre Ängste zu verdrängen.
    Édith trinkt.
    Systematisch und ganz allein gießt sie sich ihren Schmerzstiller in den Rachen.
    Ihr Blick ist trüb, sie betäubt sich.

    Die Concierge klingelt, Édith geht durch den Flur zur Wohnungstür, die von pompösen Säulen flankiert wird. Sie hält sich aufrecht, schwankt kaum, es ist erst zehn Uhr vormittags, um sechs wird wahrscheinlich der Zusammenbruch kommen.
    Sie kann noch mit klarer Aussprache ein »Guten Tag« und einen jener ritualisierten Sätze formulieren, die man, minimal variiert, in solchen Situationen gewöhnlich von sich gibt: »Schönen Tag noch!«
    »Haben Sie einen schönen Tag.«
    »Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag.«
    »Was für ein Wetter! Also, dieser Regen — aber die Pflanzen im Hof freuen sich...«
    Édith nimmt den Packen Post entgegen, legt ihn in das versilberte Körbchen auf dem weißen Flügel im Salon und kehrt zurück in ihr Zimmer, zurück zu ihrer Flasche, zurück zu ihrer geliebten Selbstzerstörung.
    Der schwarz umrandete Brief wartet.

    Clara stürzt aus ihrem Einfamilienhaus, sie ist spät dran, es regnet in Strömen, sie muss heute Morgen noch zwanzig Klassenarbeiten korrigieren und an eine Klasse zurückgeben, die sie gern mag — die Kids sind zwar keine literarischen Genies, aber sie zeigen guten Willen.
    Wann? Wann soll ich das nur erledigen?
    Ihr bleibt die Pause — in der Pause könnte sie rasch... wenn man sie nicht auf ein gewerkschaftliches Problem anspricht...
    Es ist kein Obst mehr im Haus, die Kinder müssen täglich Obst essen, sie hat vergessen, Obst auf Mingos Einkaufszettel zu schreiben, aber das macht
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