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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Autoren: Michelle Zink
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Zeichen selbst auf der zarten Haut an der Unterseite meines Handgelenks ist der Grund für mein Entsetzen, sondern die Tatsache, dass es seit heute Morgen so viel dunkler geworden ist. Der Kreis ist viel deutlicher zu sehen, obwohl die Zacken, die den Rand unförmig erscheinen lassen, noch verschwommen sind.
    Ich kämpfe die aufsteigende Panik nieder. Es muss doch einen Ort geben, wo ich hingehen, etwas, das ich tun kann, jemanden, dem ich davon erzählen kann - aber wem könnte ich so etwas anvertrauen? Früher wäre ich zu Alice gegangen - wem sonst hätte ich all die kleinen und großen Geheimnisse meines Lebens zur Aufbewahrung geben können? Aber die wachsende Entfremdung zwischen uns kann ich nicht ignorieren. Sie gibt mir das Gefühl, dass ich mich vor meiner Schwester in Acht nehmen muss.
    Ich rede mir ein, dass das Zeichen von selbst verschwinden wird, dass es nicht nötig ist, jemanden mit einer solchen Kleinigkeit - wie merkwürdig sie auch sein mag - zu belasten, wenn es ohnehin in ein paar Tagen wieder verblasst. Instinktiv fühle ich, dass ich mich selbst belüge, aber trotzdem räume ich mir das Recht ein, an einem solchen Tag nicht den Glauben zu verlieren.
    An dem Tag, an dem ich meinen Vater begraben musste.

2
     
     
     
     
    D as fahle Novemberlicht schiebt seine Finger durch den Raum, den Ivy gerade mit einem Kessel heißen Wassers betritt.
    »Guten Morgen, Miss.« Sie gießt das Wasser in eine Schüssel auf der Kommode. »Soll ich Ihnen beim Ankleiden helfen?«
    Ich stütze mich auf die Ellbogen. »Nein, danke. Das mache ich allein.«
    »Sehr wohl.« Sie verlässt mit dem leeren Kessel in der Hand den Raum.
    Ich werfe die Bettdecke zurück und gehe zur Kommode, verwirbele das Wasser mit einer Hand, um es abzukühlen, bevor ich mich damit wasche. Als ich fertig bin, trockne ich meine Wangen und meine Stirn ab und betrachte mich im Spiegel. Meine grünen Augen sind so tief wie ein bodenloser Brunnen und sie sind leer. Ich frage mich, ob es möglich ist, sich von innen heraus zu verändern, ob die Trauer nach außen dringen kann, durch die Adern, die Organe
und die Haut, sodass alle sie sehen können. Ich schüttele den Kopf angesichts dieser düsteren Gedanken und sehe mein kastanienbraunes Haar, das im Rhythmus meiner Kopfbewegung meine Schultern streift.
    Ich ziehe das Nachthemd aus und hole Unterrock und Strümpfe aus der Kommode. Dann kleide ich mich an. Ich schiebe gerade den zweiten Strumpf über meinen Oberschenkel, als Alice, ohne anzuklopfen, ins Zimmer rauscht.
    »Guten Morgen.« Schwer lässt sie sich auf das Bett fallen und schaut mit jenem atemberaubenden Charme zu mir auf, den ihr keiner so schnell nachmacht.
    Ihr müheloser Umschwung von kaum verhohlener Bitterkeit zu Trauer und schließlich zu sorgloser Ruhe trifft mich unvorbereitet. Das sollte es nicht, denn Alices Launen waren schon immer sprunghaft. Doch ihr Gesicht verrät keine Spur der Trauer, keine Spur der Melancholie von letzter Nacht. Bis auf die Schlichtheit ihres Kleides und die Abwesenheit jeglichen Schmucks sieht sie genauso aus wie immer. Vielleicht bin ich die Einzige, die sich von innen heraus verändert.
    »Guten Morgen.« Ich beeile mich, den Strumpf zu befestigen, fühle mich schuldig, weil ich so lange in meinem Zimmer verweilt habe, während meine Schwester schon längst auf ist. Ich gehe zum Schrank, sowohl, um mir ein Kleid zu holen, als auch, um ihren Augen auszuweichen, die sich zu tief in meinen verschränken.
    »Du wirst es nicht glauben, Lia: Alle Dienstboten müssen Trauer tragen. Anweisung von Tante Virginia.«

    Ich drehe mich um, bemerke die Röte ihrer Wangen und einen Anflug von Erregung in ihren Augen. Ich schiebe meine Verärgerung beiseite. »In den meisten Häusern wird die Trauerzeit eingehalten, Alice. Alle liebten Vater. Ich bin sicher, dass sie ihm nur zu gerne ihren Respekt bezeugen.«
    »Ja, schön und gut, aber wir werden hier auf absehbare Zeit eingesperrt sein, und es ist so schrecklich langweilig. Glaubst du, dass Tante Virginia uns erlauben wird, nächste Woche wieder zum Unterricht zu gehen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fährt sie fort. »Aber dir ist das natürlich egal! Du wärst bestimmt heilfroh, wenn du Wycliffe nie mehr im Leben sehen müsstest.«
    Ich mache mir nicht die Mühe, ihr zu widersprechen. Es ist allgemein bekannt, dass Alice sich nach dem zivilisierten Leben in Wycliffe verzehrt, wo wir zweimal in der Woche am Unterricht teilnehmen, während ich mich dort
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