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Wolfsflüstern (German Edition)

Wolfsflüstern (German Edition)

Titel: Wolfsflüstern (German Edition)
Autoren: Lori Handeland
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1
    »Du hast wieder einen Brief vom alten Tattergreis Dr. Mecate bekommen.«
    Gina O’Neil unterbrach das Striegeln des Pferdes, sah auf und entdeckte ihren besten Freund Jase McCord, der mit einem blütenweißen, geschäftsmäßig wirkenden Umschlag wedelte. Sie wusste genau, um welches Geschäft es darin ging. Wie sollte sie auch nicht, nachdem der hartnäckige Dr. Mecate ihr inzwischen mindestens ein Dutzend identischer Umschläge geschickt hatte?
    Es wäre durchaus opportun für Sie, wenn Sie mir gestatteten, auf Ihrem Grund und Boden zu graben .
    Was zum Geier bedeutete opportun ?
    Meine akademische These unter Beweis stellen zu dürfen, würde sich vorteilhaft auf das Renommee Ihres Unternehmens auswirken .
    Das Wort Renommee stellte Gina vor ein ähnliches Rätsel.
    Gerne bin ich bereit, eine Vorauszahlung auf Ihre Vergütung zu leisten .
    Wer redete denn so?
    »Hallo-ho.« Jase schwenkte den Umschlag hin und her. Die abgebrochene Ecke seines Schneidezahns, die ihm fehlte, seit er mit acht Jahren von einem Pferd abgeworfen worden war, nahm seinem breiten, von hohen Wangenknochen definierten Gesicht etwas von seiner Härte. In Kombination mit seinem kompakten, aber durchtrainierten Körper sah er aus wie ein grimmiger Ute-Krieger – und damit genau wie das, was er gewesen wäre, hätte er in einem früheren Jahrhundert gelebt. »Was soll ich …?«
    Gina riss ihm den Umschlag aus der Hand. »Ich kümmere mich darum.« Und zwar auf die gleiche Weise, wie sie sich um all die anderen gekümmert hatte.
    Durch direkte Entsorgung in den Müll.
    Sie wandte sich wieder Lady Belle zu, und Jase, der mit Ginas wechselnden Launen vertraut war, zog von dannen.
    Die Nahua Springs Ranch war nicht nur Ginas Zuhause, sondern auch ihr Erbe. Einst eine der angesehensten Pferdezucht-Ranches in Colorado, war Nahua Springs nach dem Tod von Ginas Eltern vor zehn Jahren zu einer Ferienranch mutiert, von denen es in der Gegend schon viel zu viele gab. Trotzdem waren sie ganz gut zurechtgekommen. Bis vor Kurzem.
    Denn seit einer Weile flatterten ebenso viele Schreiben von Schuldeneintreibern wie von Dr. Mecate ins Haus. Natürlich wäre seine Vergütung im Hinblick auf ihre finanzielle Misere durchaus willkommen. Nur leider konnte sie seinem Ersuchen unmöglich stattgeben.
    Sie wusste, was sie in dem Umschlag finden würde: die Bitte, ihn auf ihrem Land nach aztekischen Ruinen graben zu lassen.
    Das konnte sie nicht erlauben. Was, wenn er dort suchte? Was, wenn er es fände?
    Gina ging hinüber zum offenen Scheunentor und sog die Frühlingsluft tief in ihre Lungen, während sie die tintenschwarze Wellenform der fernen Berge und das frische, von den Strahlen des Mondes in Silber getauchte Gras bewunderte.
    Giiiiii-naaaa!
    Manchmal rief der Wind ihren Namen. Manchmal taten es die Kojoten. Manchmal hörte sie ihn sogar im Heulen der Wölfe, die nicht existierten.
    Der trillernde Singsang spukte durch ihr Leben und rief ihr unaufhörlich in Erinnerung, was sie alles verloren hatte. Gina war zu dem Schluss gelangt, dass der Ruf ihrem Gewissen entstammte, das sie mit diesem letzten Wort, das ihre Eltern hervorgestoßen hatten, daran gemahnte, sich zu erinnern – als könnte sie jemals vergessen, dass sie wegen ihr gestorben waren.
    Alles hatte in dieser unterirdischen Kaverne seinen Anfang und sein Ende genommen.
    »Kinder sind eben Kinder«, murmelte sie, ihren Vater zitierend, der diesen Kommentar verlässlich abgegeben hatte, wann immer sie und Jase in Schwierigkeiten geraten waren.
    Lass sie laufen, Betsy. Was bringt es, dieses Land zu besitzen, wenn sie sich nicht so frei darauf bewegen kann wie wir früher?
    Ginas Eltern waren schon als Kinder ein Herz und eine Seele gewesen. Eigentlich langweilig, wäre da nicht der Umstand gewesen, dass ihre Beziehung unter einem schlechten Stern gestanden hatte, da Betsy die Tochter des Ranchbesitzers war und Pete der Sohn des Vorarbeiters. Jeder hatte geglaubt, dass sie einander so nahestanden wie Bruder und Schwester. Als Betsys Vater herausfand, dass sie sich noch näherstanden, hatte er seiner Tochter gedroht, sie auf ein College an der Ostküste zu schicken, und zwar gleich nachdem Pete seine Peitsche zu spüren bekommen hätte.
    Mit der Entdeckung, dass ein Enkelkind unterwegs war, waren sowohl die Gefahr einer Auspeitschung als auch die Hoffnung auf ein Collegestudium vom Tisch gewesen. Nicht dass Betsy darunter gelitten hätte. Sie hatte die Ranch genauso sehr geliebt, wie Pete es getan
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