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Wolfsflüstern (German Edition)

Wolfsflüstern (German Edition)

Titel: Wolfsflüstern (German Edition)
Autoren: Lori Handeland
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hatte und wie Gina es heute tat.
    Gina und Jase waren noch Kinder gewesen an jenem Tag, als sie auf direktem Weg zu dem Ort aufbrachen, vor dem Jases Großvater Isaac sie so eindringlich gewarnt hatte.
    Am Ende des Einsamen Wildwechsels schläft der Tangwaci Cin-au’-ao. Dort dürft ihr niemals, niemals hingehen .
    Isaac zufolge war der Tangwaci Cin-au’-ao ein böser Geist, der über derartige Macht verfügte, dass jeder, der sich in seine Nähe begab, ums Leben kam. Im Grunde handelte es sich dabei um den Todesengel der Ute – und er hauste ausgerechnet auf ihrem Land. Welche Fünfzehnjährige hätte da widerstehen können?
    Gina ganz bestimmt nicht.
    Sie hatte eine Obsession für den Einsamen Wildwechsel entwickelt, sich immer näher herangewagt und Fotos von der flachen Ebene geknipst, die plötzlich ins Nichts fiel, obwohl ein Baum aus dem Horizont zu wachsen schien. Und sobald die Abend- oder Morgendämmerung diesen Horizont rot färbten, sah es aus, als würde der Baum Feuer fangen.
    Wie konnte jemand einen solchen Ort nicht erforschen wollen?
    Jase hatte es nicht gewollt, aber Gina war ihm so lange auf die Nerven gefallen, bis er schließlich erwartungsgemäß nachgab. Sie musste Jase zugutehalten, dass ihm nicht ein einziges Mal der Satz Ich habe es dir ja gesagt entschlüpft war.
    Nicht, als der Boden unter ihnen eingebrochen war.
    Nicht, als sie aus dem Loch herauszuklettern versuchten, mit dem einzigen Erfolg, dass sie eine Lawine sonnengebackener Erde auslösten und unter ihr verschüttet wurden.
    Nicht, als sie lebendig begraben waren, bewegungsunfähig und kaum in der Lage zu atmen.
    Nicht, als beide begriffen, dass sie dort sterben würden.
    Doch die Tatsache, dass Ginas Schlaf noch immer von dem geisterhaften trillernden Singsang gestört wurde, dass selbst der Wind gelegentlich ihren Namen rief, dass sie jeden Morgen kurz vor dem Aufwachen das Gleiche fühlte wie in dieser Kaverne – die Präsenz von etwas Dämonischem, das in einer wahnsinnigen Parodie von Ene, mene, muh mit seiner deformierten Hand erst auf Gina, dann auf Jase zeigte, bevor es seine Todeskralle schließlich auf ihre Eltern richtete, nun …
    Das war vermutlich Ich habe es dir ja gesagt genug.
    Mateo Mecate starrte auf die Hieroglyphen, bis sie vor seinen überanstrengten Augen verschwammen. Er mochte einer der herausragendsten Gelehrten der Aztekenforschung sein, trotzdem lasen sich die Buchstaben manchmal wie Kauderwelsch. Er schob die Papiere von sich, nahm seine Brille ab und rieb mit der Hand über sein Gesicht.
    Eigentlich hätte es ja im Mai Frühling sein sollen. Aber wie gewöhnlich hielt sich Tucson nicht an den Kalender. Die Temperatur überstieg schon seit einer Woche die Dreißig-Grad-Marke.
    Die Tür von Matts kleinem, verstaubtem, stickig-heißem Büro öffnete sich, und sein Boss, George Enright, trat ein. Sein Blick erfasste die Papiere auf Matts Schreibtisch, und er runzelte die Stirn.
    »Mateo.« In Enrights Stimme schwang eine große Enttäuschung mit. Matt wartete nur darauf, dass er tadelnd mit der Zunge schnalzte, den Kopf schüttelte oder mit einem Finger drohte. »Das muss aufhören. Wegen des Respekts, den ich vor deiner Mutter hatte, habe ich bisher ein Auge zugedrückt, doch jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, endlich zu neuen Ufern aufzubrechen.«
    Enright war Leiter der anthropologischen Abteilung der Universität von Arizona, wo Matt als Archäologieprofessor arbeitete, und zwar – wie vor ihm bereits seine Mutter – auf dem Spezialgebiet aztekische Kultur.
    Nora Mecate stammte von dieser großartigen Zivilisation ab. Sie war fasziniert – besessen, wie böse Zungen behaupteten – gewesen von der Idee, den Beweis für eine Theorie zu erbringen, auf die sie in den uralten Schriften, die seit vielen Generationen innerhalb der Familie weitervererbt worden waren, gestoßen war. Sie hatte ihr Leben damit verbracht – nein, sie hatte ihr Leben dafür gegeben –, diesen Beweis zu finden.
    »Du könntest der Leiter dieser Abteilung werden, wenn ich mich zur Ruhe setze. Aber du musst diese lächerliche Theorie deiner Mutter aufgeben. Du machst dich allmählich zum Gespött.« Enright senkte die Stimme. »So wie Nora.«
    Matt versteifte sich. Jeder Akademiker, der sich weigerte, Fakten zu akzeptieren, wurde zum Mittelpunkt amüsanter Anekdoten am Wasserspender der Belegschaft. Ihm war nicht entgangen, dass viele der Doktoranden neuerdings mit seltsamen Blicken und Getuschel auf ihn reagierten.
    Nicht,
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