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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen
Autoren: Stephan Marks
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dieser Stelle wird in Seminaren zum Thema Hoffnung oft gefragt: Wer sind denn die Propheten von heute? Auch wenn ich im weiteren Verlauf dieses Buches einige Propheten der Gegenwart vorstellen werden, halte ich diese Frage im Grunde für irrelevant: Denn es kommt nicht auf die Person des Propheten oder der Prophetin an, sondern auf den Prozess der Hoffnung oder, mit anderen Worten, der Verwandlung. Dieser soll nachfolgend näher betrachtet werden; zunächst aus psychologischer, dann aus pädagogischer Perspektive.

3. Verwandlung
    Der Prozess der Transformation ist im Werk des Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung von grundlegender Bedeutung. In seiner langjährigen psychotherapeutischen Arbeit beobachtete der Begründer der Analytischen Psychologie die erstaunliche Fähigkeit der menschlichen Psyche, leidvolle oder furchterregende Erfahrungen in etwas Positives umzuwandeln: in neue Lebendigkeit und Lebensenergie, in Aufgeschlossenheit für Neues: Hoffnung. Dieser Prozess ist grundlegend für die tiefenpsychotherapeutische Arbeit.
    Auch in der Trauerforschung wurde diese Fähigkeit beobachtet: Die Ärztin und Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross (1980) wollte ursprünglich verstehen, wie Sterbende und ihre Angehörigen mit Sterben und Tod umgehen und wie sie dabei besser unterstützt werden können. Zu diesem Zweck führte sie Interviews mit unheilbar kranken Menschen und ihren Angehörigen und befragte sie nach ihren Gedanken und Gefühlen. Dabei zeigte sich, dass es einen natürlichen Prozess gibt, mit dem Menschen ihre Trauer verarbeiten; dieser wird als Trauerarbeit bezeichnet (Kübler-Ross 1980; Kast 1996).
    Dabei lassen sich idealtypisch verschiedene Phasen unterscheiden, die jedoch nicht strikt schematisch ablaufen: Vom anfänglichen Nicht-Wahrhaben-Wollen über Zorn und Depression bis hin zu Akzeptanz und neuer Lebendigkeit. Graphisch ließe sich dieser Prozess etwa als Kurve darstellen, die zunächst nach unten , in dunkle, schmerzhafte Emotionen geht, an einen Wendepunkt kommt, um schließlich wieder nach oben zu führen.
    Durch diesen Prozess kann für Angehörige ganz allmählich, wie eine zarte Pflanze, Heilung erwachsen. Der trauernde Mensch versteht und akzeptiert, dass das Leben sich verändert hat, weil der geliebte Mensch gestorben ist. Er oder sie erkennt, dass andere Verhaltensmöglichkeiten, Rollen,
Lebensstile und Beziehungen möglich sind; vielleicht sogar neue Bindungen, weil der Mensch erfahren hat, dass Verluste zwar schmerzhaft, aber zu ertragen sind. So birgt die Verarbeitung von Trauer neues Leben in sich. Der trauernde Mensch ist stärker und reifer geworden, bereit für neue Herausforderungen.
    Nach Heike Schnoor (1988, 172) gewinnen Trauernde »einen neuen Blickwinkel ihrer Wirklichkeit, der wiederum zu einer Veränderung der Realität selbst führen kann.« Durch das Annehmen der Krise werden auch neue Kräfte freigesetzt, die oft »den individuellen Horizont« überschreiten und »zu gemeinschaftlich verantwortlicher Tätigkeit in solidarischer Gemeinschaft mit anderen Betroffenen führen.«
    Ohne diesen Prozess der Trauerarbeit kann es keine Hoffnung geben, kein »Neues«, das diesen Namen verdient – bestenfalls oberflächlichen Optimismus. Nach Schnoor (1988, 186) ist Hoffnung »nicht auf einen positiven Affekt der Zuversicht zu reduzieren. Hoffnung schließt die Annahme und das Empfinden von Krisen auch in ihrer leidvollen Qualität mit ein. Erst die Annahme der Krise kann – den Boden der Realität bestimmend – zum Ausgangspunkt von Veränderung werden. Hoffnung setzt damit die Wahrnehmung von Leiden voraus. Insofern kommt der Zerstörung der Empfindungsfähigkeit die Zerstörung der Hoffnung gleich.«
     
    Wie dieser Umwandlungsprozess – von der Trauer zu neuer Lebendigkeit – vor sich geht, ist ohne tiefenpsychologische Erfahrung nur schwer zu vermitteln und in akademisch-analytischen Begriffen kaum zu beschreiben, da er weitgehend im Unterbewussten, in der »Dunkelheit« der Psyche, geschieht. Umso wichtiger sind symbolische Um schreibungen, wie sie von Carl Gustav Jung vielfach in Träumen beobachtet wurden; ebenso in der Kunst, in alchemistischen Texten (»von Blei zu Gold«), in Religionen (z. B. in der Symbolik von Tod und Auferstehung) sowie in Mythen und Märchen:

    Etwa im Symbol der »Nachtmeerfahrt« des Helden, der in der Unterwelt die »schwer zu erreichende Kostbarkeit« gewinnt. Typischerweise ist der Held oder die Heldin mit einer überlebens-notwendigen
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