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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen
Autoren: Stephan Marks
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spricht davon, den Schmerz aufzunehmen und ihn als Treibstoff für unsere Reise zu verbrennen. Für Matthew Fox (1991, 164) ist dies eine Umschreibung des konstruktiven Umgehens mit leidvollen Erfahrungen: »Zuerst kommt das Aufnehmen, das Zulassen des Schmerzes; dann kommt die Reise mit dem Schmerz; dann das Loslassen, ein freiwilliges Loslassen, in das Feuer, in einen Kessel, aus dem heraus die Kraft des Schmerzes uns dienen wird. Und zuletzt erhalten wir den Nutzen davon, dass wir den Treibstoff verbrannt haben.« So wird der Schmerz zu Kraft; aus Leiden wird Leidenschaft.
    Tatsächlich gibt es keine soziale Bewegung, die nicht aus Leid geboren wurde. Auch im Begriff »Empörung« steckt ja das Wort »empor«, das eine Bewegung von unten nach oben beschreibt. Dieser Prozess lässt sich auch im Leben vieler sozial oder politisch engagierter Menschen zeigen. Ein Beispiel unter vielen ist der japanische Zeichner Keji Nakazawa, einer der bekanntesten Atomkraftgegner in seinem Land:
    Er ist sechs Jahre alt, als das US-amerikanische Militär eine Atombombe über seiner Heimatstadt Hiroshima zündet. Der Junge sieht Menschen, die am ganzen Körper verbrannt sind; ein Mädchen mit Glassplittern im Auge; Frauen und Männer, denen die Haut herunterhängt. Aus den Trümmern seines Elternhauses zieht er den Schädel seines kleinen Bruders. 80.000 Menschen sterben sofort, weitere 60.000 in den folgenden Monaten;
die weiteren Überlebenden sterben den schleichenden Tod. Die nukleare Strahlung zersetzt ihre Körper.
    Nakazawa macht eine Lehre als Schildermaler, weil seine Familie kein Geld für die weiterführende Schule hat; als 22-Jähriger veröffentlicht er seine ersten Manga-Comics. Fünf Jahre später stirbt seine Mutter; er erinnert sich: »Ich war geschockt, als man mir die Asche meiner Mutter übergab. Ich war mit dem Zug ins Krematorium nach Hiroshima gefahren, um die Asche abzuholen. Normalerweise bleiben immer ein paar Knochen übrig: Schädel-, Arm- oder Beinknochen. In der Asche meiner Mutter waren keine Knochenreste. Ich vermute, die Strahlung hat ihre Knochen so aufgeweicht, dass sie sich komplett aufgelöst haben.« (zit. in Reinhardt 2011, 131).
    Nakazawa rast vor Wut, auf der ganzen Zugfahrt nach Tokio kann er sich nicht beruhigen: Die Strahlung hatte ihm auch noch die letzten Reste seiner Mutter genommen. Dies wird ein prägender Augenblick in seinem Leben. Erst während dieser Zugfahrt wird ihm bewusst, dass er sich, wie auch die japanische Gesellschaft insgesamt, nie mit den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki auseinandergesetzt hatte.
    Diese Erfahrung wird zu einem Wendepunkt in seinem Leben. Er beginnt, sein eigenes Leben nachzuerleben und zu zeichnen. In Hiroshima-Mangas erzählt er die Erfahrung des jungen Gen, Alter Ego des Zeichners: Er schildert den Tag des Abwurfes, das Grauen danach und den Kampf ums Überleben. Im vierten Band mit dem Titel »Hoffnung« stirbt seine kleine Schwester, die – geboren am Tag der Bombe – nur vier Monate alt wurde. Inmitten all dieses Grauens verliert Gen nie seine Hilfsbereitschaft und den Lebensmut.
    Reymer Klüver (1991, 3) berichtet von einem weiteren Beispiel: Jon Turner wächst in einem Städtchen an der US-Ostküste auf. Mit 17, noch von der Highschool aus, verpflichtet er sich zu den Marines, einer besonders harten militärischen Einheit, so wie alle seine männlichen Vorfahren seit George Washington in der US-Armee gedient hatten. Dies war in seiner Familie
selbstverständlich: »Alle waren sie von Kleinkindalter an verehrte Helden. Da wollte ich auch dazugehören.« Im Januar 2005 wird seine Einheit in den Irak verlegt. Dort nimmt das Grauen Besitz von ihm: »Die Angst. Das ständige Gefühl der Bedrohung. Du hast immer Angst.«
    Er riecht, hört, fühlt, ist selbst das Grauen: zerschossene Leiber am Straßenrand; der zerfetzte Leichnam seines Freundes auf der Motorhaube; er schießt auf Menschen und wird selber von einem Granatsplitter am Kiefer getroffen. Der Krieg hat ihn zum Wrack gemacht und fast umgebracht. Nach dem Tod des Freundes und gegen Ende seiner Dienstzeit kommen die Fragen in ihm hoch: »Warum sind wir hier? Es macht keinen Sinn. Was mach’ ich hier?«
    Zurück in den USA wird er seine Erinnerungen an das Grauen nicht mehr los. Er betrinkt sich häufig, kommt auf Entzug, nimmt zeitweise bis zu sieben verschiedene Medikamente. Er gerät in eine Achterbahn der Gefühle mit Tälern der Einsamkeit, Wahnvorstellungen und panischen Ängsten. Er
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