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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen
Autoren: Stephan Marks
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Einleitung
    Ist der Anblick des nächtlichen Sternenhimmels, der Milchstraße mit ihren Myriaden von Sternen, nicht Ehrfurcht erweckend? Ist es nicht höchst eindrucksvoll, wie sich im Laufe der Jahrmillionen immer wieder neue Lebewesen entwickelten, ein überwältigender Reichtum an Formen, Farben, Klängen und Düften? Ist es nicht erstaunlich, wie sich am Ende jedes Winters, noch unter einer dicken Schneeschicht, neues Leben zu regen beginnt, das sich in den Frühjahrsmonaten in einer unglaublichen Fülle entfaltet? Ist es nicht ein Wunder, wie sich eine Raupe in einen Schmetterling verwandelt? Ist die Fähigkeit des Körpers, nach Verletzungen zu regenerieren, nicht enorm? Sind die Fähigkeiten des menschlichen Geistes, die Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln, und seine Kreativität nicht beeindruckend? Ist die Schöpfung nicht wunderbar?
    Zugleich ist das Leben, solange ich mich zurückerinnern kann, seit den 1950er-Jahren, trotz steigendem Lebensstandard stets überschattet von schrecklichen Ereignissen und drohenden Katastrophen: kalter Krieg, Atomkriegsgefahr, Wirtschaftskrisen, Rechtsextremismus, Energiekrisen, Nahostkonflikt, Terrorismus, Armut, Kriege, Hungersnöte, Dürre-und Flüchtlingskatastrophen, Artensterben, Ausbreitung der Wüsten, Atomreaktor-Unfälle, Atommüllskandale, Amokläufe, Gifte in der Nahrung, in der Muttermilch und im Trinkwasser, Schulden- und Finanzkrisen, Klimakatastrophe und vieles mehr. In all diesen Jahrzehnten wurde kaum eines dieser Probleme wirklich gelöst, insofern waren dies verlorene Jahrzehnte. Im Gegenteil scheint sich die Taktfolge der Krisen und Katastrophenszenarios immer noch mehr zu verdichten:
    Als ich im März 2011 die erste Einleitung für dieses Buch verfasste, hatte sich wenige Tage zuvor die Reaktor-Katastrophe von Fukushima ereignet: Durch das Tōhoku-Erdbeben und den nachfolgenden Tsunami wurden vier Reaktorblöcke
massiv beschädigt. Ungeklärte Mengen an Radioaktivität (darunter das hochgiftige Plutonium mit einer Halbwertzeit von 24.000 Jahren) gelangten in die Luft, in die Erde, in das Grundwasser und in das Meer. Eine unbekannte Zahl von Arbeitern und Anwohnern wurden verstrahlt; noch Monate später ist das Problem nicht behoben und die Langzeitfolgen der Katastrophe sind nicht abschätzbar.
    Erschüttert verfolgten in den ersten Wochen Millionen von Menschen weltweit die Ereignisse am Fernsehen, im Internet oder über die Tageszeitungen. Viele Medien berichteten nonstop und mit Live-Tickern von den stümperhaften Versuchen, eine Kernschmelze abzuwenden.
    Manche Kommentatoren bewerteten die Katastrophe spontan als Zeitenwende; so rief etwa das Nachrichtenmagazin Der Spiegel am 14. März 2011 das »Ende des Atomzeitalters« aus. Die Bundesregierung verkündete zunächst ein Moratorium, wonach sieben der ältesten AKWs vorübergehend abgeschaltet und auf ihre Sicherheit kontrolliert werden sollten. Gut zwei Wochen später gingen die Grünen als große Gewinner aus den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz hervor; sie übernahmen in beiden Ländern, in Koalition mit der SPD, die Regierungsverantwortung. Im Sommer 2011 beschloss die schwarz-gelbe Koalitionsregierung in Berlin den Ausstieg aus der Atomenergie – allerdings verzögert bis zum Jahr 2022 und bezogen nur auf die Bundesrepublik Deutschland.
    Aber reicht das aus? In den umliegenden Ländern werden Atomkraftwerke weiter betrieben. Beispielsweise im französischen Fessenheim, nur etwa 20 Kilometer Luftlinie von meinem Wohnort Freiburg entfernt: Die zwei Reaktoren sind seit 1977/78 in Betrieb und technologisch veraltet; zahlreiche Störfälle sind dokumentiert. Das AKW liegt im Oberrheingraben, einer stark durch Erdbeben gefährdeten Zone. So wird die Stärke des verheerenden Erdbebens von Basel 1356 auf 6 bis 7 auf der Richterskala geschätzt, während Fessenheim lediglich auf 6,5 ausgelegt ist.

    So scheint der Lerneffekt, der durch Fukushima ausgelöst wurde, letztlich doch recht gering zu sein. Schon wenige Monate später ist diese Katastrophe weitgehend aus dem Bewusstsein verschwunden; die Schlagzeilen werden heute von anderen Krisen und Gefahrenherden beherrscht. Fukushima ist heute bestenfalls noch eine von vielen Meldungen neben Fußballergebnissen, neben dem Wetterbericht, neben Klatschmeldungen über Dieter Bohlen und Lady Gaga … Alles ist gleich gültig, alles ist gleichgültig?
    Kehren die Menschen nach den Tagen des Erschreckens über Fukushima wieder zum
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