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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Autoren: Gunnar Cynybulk
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1. Der Weg
    Am letzten Tag der großen Ferien kann man sich noch einmal verkriechen. Man kann in den Tag träumen oder durch die Gärten streunen. Im Birnbaum kann man sitzen und auf alles hinabschauen. Es sei denn, man ist jemand anders. Jemand, der den ganzen Sommer über Schlusssprünge auf der Haustreppe, Steigerungsläufe auf der Halde, Stöße mit dem Stein gemacht hat. Der Junge hat all das gemacht. Er hat keine Einheit des Plans ausgelassen, den der Trainer für ihn erstellt hat. Sieben Wochen lang hat er morgens und abends trainiert: Gymnastik, Lauf- ABC , Klappmesser, Klimmzüge an der Teppichstange. Sein Haar ist hell geworden, Sommersprossen sprenkeln sein Gesicht, er ist gewachsen, die Großmutter hat es am Türstock angezeichnet, und sein Gang ist sehnig. Wenn er die Beine aus dem Bett schwingt, sieht er Muskeln über dem Knie, die sich wie Igel ballen, und dunkle Härchen auf dem Schienbein. Bald wird sich entscheiden, wer auf die Sportschule darf, wo die Olympiasieger von morgen trainiert werden. Vor sechs Wochen fand die Spartakiade statt. In der Hauptstadt traten die besten jungen Sportler der Republik gegeneinander an, die Leichtathleten des Bezirks jedoch enttäuschten. In zwei Jahren will der Junge dabei sein, und in sieben Jahren will er Olympiasieger werden.
    Seit dem Morgengrauen ist er wach, aber das Haus schläft noch. Es ist ein halbes Haus, in dem eine halbe Familie lebt. Die eine Hälfte ist da, die andere weg: gestorben, gefallen und vergessen. Der Sockel des Hauses ist geziegelt, die Wände sind rau verputzt, die Fensterläden weinrot und weiß gestrichen, und das Dach ist mit Biberschwänzen gedeckt. Die Dachluke darf nicht verstellt werden, denn der Vater muss freien Zugang zur Antenne haben. Oft ist das Fernsehbild unscharf, und dann sucht der Vater mit der Antenne in der Hand den richtigen Empfang. Er harkt die Luft, während die Großmutter vor dem Fernseher das Ergebnis kontrolliert. Der Junge ist der Bote zwischen Großmutter und Vater, zwischen Erdgeschoss und Dach. Er nimmt zwei Stufen auf einmal, hetzt über die gewundene Treppe nach oben, steckt den Kopf durch die Luke und ruft: Jetzt ist’s schlechter. – Aber vorher war’s doch besser, ruft der Vater zurück und dreht die Antenne gen Westen, weil er sich von dort immer nur das Beste erhofft. Der Junge trägt den Satz des Vaters nach unten, worauf die Großmutter entrüstet sagt: Nu ist’s ganz schlecht. Das teilt der Junge wiederum seinem Vater mit, atemlos, der aus heiterem Himmel herumschreit und meint, die Großmutter könne ja mit ihm tauschen, wenn sie alles besser wisse, sie könne ja selbst aufs Dach klettern, und er würde sie dann herumkommandieren. Der Junge denkt, dass das für ihn nichts ändern würde.
    Nebenan wohnen aufmerksame Bürger. Selten sind sie im Garten zu sehen, während der Vater und die Großmutter jeden Abend vor den Beeten stehen und den Wuchs der Stauden, Blumen und Büsche besprechen. Von einer Baustelle hat der Vater Rohrsegmente organisiert, die jetzt als Pflanzkübel dienen und besonders schöne Gewächse beherbergen. Manchmal bleiben Passanten vor dem Zaun stehen und bewundern den Vorgarten, vor allem die rot blühenden Cannas. Der hintere Garten besteht aus einem hufeisenförmigen Rasenschwung, der einen betonierten Kreis einfasst, das Rondell, auf dem eine Hollywoodschaukel steht. Im Handstand läuft der Vater vom einen Ende des Hufeisens zum anderen, vorbei am Birnbaum, am Schuppen, bis zur Stirnseite der Garage. Die Unterschenkel abgeknickt, rammt er Hand um Hand ins Gras. Zwischen seinen Fingern sammeln sich Sträuße von Gänseblümchen, und am Schluss lässt er sich fallen und lacht. Die Großmutter erzählt, dass der Junge durch die Stäbe seines Laufstalls Klee und Gänseblümchen gepflückt und sich zu ihrem Schrecken in den Mund gestopft hat. Im November wird er zwölf.
    Kurz hat er geschlafen, und doch ist er nicht müde. Er ist auf eine Art und Weise wach, die es ihm erlaubt, alles ruhig anzuschauen und vielleicht auch zu bedenken. Niemand merkt, dass er sein Bett verlassen hat. Die Großmutter schläft auf dem ausgezogenen Sofa in der Stube, Rauch und Blicke hängen in den Gardinen. Der Vater schläft im ersten Stock, im Bett in der Bücherwand. Die Instrumente sind kalt, und der Ofen hält Sommerschlaf. Einen Stock darüber, unterm Dach, wo jetzt noch die Wärme im Gebälk hockt und im Winter die Kälte und jederzeit der Holzwurm, schläft der Junge, in einem Klappbett
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