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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Autoren: Ju Honisch
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Kapitel 1
    Kanura spürte kaum den Boden unter seinen Hufen. Er jagte über das sanfte, moosige Gras, über die Hügel, die Bergflanken hinab in die grünen Täler. Und dennoch setzte er jeden Schritt, jeden Tritt bewusst und zielgerichtet. Jeden Sprung. Er spürte die lebende Erde unter sich, fühlte die Verbindung zu ihr.
    Sie gab ihm Macht, und die würde er brauchen.
    Ihnen allen gab Talunys Nahrung und Macht. Diese, seine Welt war überall, umgab ihn, durchdrang ihn und das gesamte Volk der Tyrrfholyn. Die Einhörner waren Kinder und Herren des Landes gleichermaßen.
    Dennoch sprachen die Alten von Krieg. Und sein Freund war tot.
    Fast widerwillig stemmte Kanura die Hufe gegen seine eigene Geschwindigkeit, bremste allein mit seiner muskelstrotzenden Stärke und verabschiedete sich vom Wind, der ihm durch die helle Mähne gefahren war wie eine Geliebte, die einem im Übermut die Haare zerzauste. Er drehte den Kopf, senkte sein Horn in die Richtung seines Blickes und ließ es an Informationen einsaugen, was die Augen nicht sahen, die Nüstern nicht rochen und die Ohren nicht hörten.
    War da etwas? Er war sich nicht sicher. Aber nicht sicher zu sein, konnte Gefahr bedeuten.
    Der Weg war weiter gewesen, als er gedacht hatte. Die sinkende Nachmittagssonne ließ das Wasser im Sonntal silbrig glitzern. Das Flüsschen breitete sich in der Mitte des Tales zu einem kleinen, länglichen See aus. Der Boden in der Nähe des Ufers war sumpfig, und Kanuras Hufe gaben schmatzende Geräusche von sich, als er auf dem üppigen Gras tänzelte.
    Brunnen waren vermutlich noch nicht gefährlich, aber Flüsse und Seen mochten schon dem Feind gehören. Wenn die Gerüchte denn stimmten. Wenn sie mehr waren als ein Gruselmärchen, das die Schanchoyi in die Welt gesungen hatten, so wie sie immer aus Vergangenem Lieder und Legenden erschufen.
    Der Tod hatte sich ein erstes Opfer geholt, und wo Tote nicht mehr nur Strophen alter Gesänge waren, wurden bunte Märchen schnell zu dunkler Wirklichkeit.
    Welchen Grund hatte er, dies zu bezweifeln?
    Dennoch galoppierte Kanura durch die Weiten Talunys’ in dem Anspruch, dass es – zumindest bis zu den Trutzbergen – immer noch den Tyrrfholyn gehörte. Das Land ebenso sehr wie die Luft, die er atmete, und das Wasser, ohne das niemand leben konnte.
    Und die Uruschge gab es doch gar nicht. Oder?
    Misstrauisch betrachtete er das glitzernde Nass. Schön war es und verführerisch. Für sein Volk hatte Wasser immer schon auch Verführung bedeutet. Jede Quellnymphe in den Liedern wusste das. Jeder der Tyrrfholyn wusste das auch. Es war noch nicht einmal etwas Verwerfliches darin: Verführung war zielgerichtete Sinnlichkeit. Und wer hatte schon etwas gegen Sinnlichkeit? Kanura ganz gewiss nicht.
    Vorsichtig näherte er sich dem Glitzerspiegel des Wassers. Fast erwartete er, dass sich die glatte Oberfläche nach oben wölben würde, um einen Feind aus der Tiefe hervorbrechen zu lassen. Nicht, dass der aus einem Flüsschen gebildete See tief war, doch die Uruschge konnten Tiefe selbst im flachsten Tümpel finden. Es gehörte zu ihrer ureigensten Magie. Sie trugen die Tiefe in sich, waren selbst Teil eines immerwährenden Abgrunds. Kaum ein Wasserlauf war zu flach oder zu klein, um ihnen als Hinterhalt dienen zu können.
    So hieß es zumindest in den Legenden.
    Kanura schnaubte argwöhnisch. Irgendetwas stimmte nicht. Er sog die Luft durch seine Nüstern ein, versuchte die Gerüche und Präsenzspuren um sich herum zu analysieren. Die Uruschge waren vermutlich geruchlos, denn Wasser wusch Duftmarken ab. Doch eine Aura sollten sie wenigstens haben, etwas, was Kanura wahrnehmen konnte. Die Wahrnehmung der Tyrrfholyn war ausnehmend gut, dennoch … nichts!
    Er tänzelte etwas nervös hin und her und überlegte, ob er sich wandeln sollte. Manchmal sah man in Menschengestalt klarer, und die Tyrrfholyn wechselten zwischen diesen beiden Möglichkeiten, je nachdem, welche Form gerade praktischer war. Aber in Menschengestalt würde er nicht so schnell fliehen können.
    Kaum hatte Kanura das gedacht, tadelte er sich auch schon dafür, denn er wollte gar nicht fliehen. Er war ein Fürstensohn, Prinz des Herrscherclans der Ra-Yurich. Da rannte man nicht einfach vor einem Wassertier davon, egal, wie viele Zähne oder welchen Appetit es hatte. Egal, ob es aussah wie ein Mensch oder wie ein Einhorn oder einfach nur wie ein Ross.
    Zu lange hatten die Tyrrfholyn sicher gelebt, ohne Krieg, ohne Angreifer. Sie waren
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