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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt
Autoren: Dennis Lehane
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Prolog
Heiligabend, 18.15 Uhr
    Vor drei Tagen, dem Kalender zufolge Winteranfang, wurde ein Freund von mir aus Kindertagen, Eddie Brewer, zusammen mit drei anderen Menschen in einem Lebensmittelgeschäft Opfer einer Schiesserei. Es war kein Überfall. Dem Schützen, James Fahey, hatte kurz zuvor die Freundin den Laufpass gegeben – Laura Stiles, die dort von vier Uhr nachmittags bis zwölf Uhr nachts an der Kasse saß. Um Viertel nach elf, Eddie Brewer füllte gerade einen Styroporbecher mit Eiswürfeln und Sprite, kam James Fahey hereinspaziert und schoss Laura Stiles einmal ins Gesicht und zweimal ins Herz.
Dann schoss er Eddie Brewer einmal in den Kopf, ging die Reihe mit dem Gefriergut entlang und fand ein älteres vietnamesisches Ehepaar, das bei den Milchprodukten in der Ecke kauerte. Beide bekamen zwei Kugeln ab, dann entschied James Fahey, dass sein Werk vollbracht war.
Er ging nach draußen zu seinem Auto, setzte sich hinters Lenkrad und klebte die Unterlassungsverfügung, die Laura Stiles mit ihrer Familie erfolgreich gegen ihn erwirkt hatte, an den Rückspiegel. Dann band er sich einen von Lauras BHs um den Kopf, nahm einen Schluck Jack Daniels und jagte sich eine Kugel in den Mund. James Fahey und Laura Stiles wurden noch am Tatort für tot erklärt. Der ältere Vietnamese starb auf dem Weg zum Carney Hospital, seine Frau einige Stunden später. Eddie Brewer liegt im Koma, und obwohl ihm die Ärzte keine besonders großen Chancen einräumen, geben sie doch zu, dass es ein Wunder ist, dass er bis jetzt überlebt hat.
Die Presse hat sich in letzter Zeit in aller Ausführlichkeit mit der Angelegenheit beschäftigt, weil Eddie Brewer, in seiner Jugend ganz und gar kein Heiliger, nämlich Priester ist. In der Nacht, als auf ihn geschossen wurde, war er joggen gewesen und trug Thermohosen und Sweatshirt, so dass Fahey nicht wusste, wen er vor sich hatte, obwohl ich bezweifle, dass das etwas geändert hätte. Doch die Presse setzte unmittelbar vor den Weihnachtstagen darauf, einer etwas aus der Mode gekommenen Geschichte neues Leben einzuhauchen, und schlachtete seine Priesterschaft nach allen Regeln der Kunst aus.
Fernsehkommentatoren und Zeitungsherausgeber deuteten den willkürlichen Schuss auf Eddie Brewer als Vorzeichen der Apokalypse, in seiner Gemeinde in Lower Mills und vor dem Krankenhaus werden rund um die Uhr Mahnwachen abgehalten. Eddie Brewer, ein unbedeutender Mann der Kirche, ein völlig unauffälliger und bescheidener Typ, ist auf dem besten Wege, ein Märtyrer zu werden, selbst wenn er überleben sollte.
Nichts von all dem hat irgend etwas mit dem Alptraum zu tun, der mein Leben und das von vielen anderen Menschen in dieser Stadt vor zwei Monaten heimsuchte, ein Alptraum, der mir Wunden zugefügt hat, die nach Aussagen der Ärzte den Umständen entsprechend verheilt sind, obwohl die rechte Hand noch immer taub ist und die Narben im Gesicht manchmal unter dem Bart brennen, den ich mir habe wachsen lassen. Nein, ein angeschossener Priester, ein Massenmörder, der in mein Leben getreten ist, die neuesten „ethnischen Säuberungen“ in einer ehemaligen Sowjetrepublik, der Mann, der nicht weit von hier eine Abtreibungsklinik in die Luft jagte, oder ein anderer Serienmörder, der in Utah zehn Menschen umgebracht hat und noch nicht gefasst wurde – all das hat nichts miteinander zu tun.
Und doch habe ich manchmal das Gefühl, diese Ereignisse seien miteinander verkettet, als gäbe es einen roten Faden, der all diese willkürlichen, wahllosen Gewaltausbrüche verbindet, und dass wir nur den Anfang dieses Fadens finden brauchten, nur an ihm ziehen, ihn entwirren müssten, und alles ergäbe einen Sinn.
Seit Thanksgiving trage ich einen Bart, zum ersten Mal in meinem Leben, und obwohl ich ihn regelmäßig stutze, überrascht mich jeden Morgen mein Anblick im Spiegel, so als träumte ich jede Nacht von einem glatten, unversehrten Gesicht ohne Narben, von reinen Gesichtszügen, wie sie nur Babys haben, von unberührter Haut, an die nur milde Luft und die zärtlichen Berührungen der Mutter gelangen.
Das Büro, Kenzie/Gennaro Investigations, ist geschlossen, verstaubt wahrscheinlich allmählich, vielleicht finden sich schon die ersten Spinnweben in einer Ecke hinter meinem Schreibtisch, vielleicht auch hinter dem von Angie. Seit Ende November ist Angie weg, und ich versuche, nicht an sie zu denken. Oder an Grace Cole. Oder an Grace’ Tochter Mae. Oder überhaupt an irgend etwas. Auf der anderen
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