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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt
Autoren: Dennis Lehane
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noch einmal. Klassische Mafiawarnung: Auch wenn du meinst, irgend etwas über uns zu wissen, wir wissen alles über dich!
„Seit dem Tag damals habe ich Moira Kenzie nicht mehr gesehen. Sie ist nicht in Bryce eingeschrieben, die Telefonnummer, die sie mir gegeben hat, gehört einem chinesischen Restaurant, und im Telefonbuch steht sie auch nicht. Und trotzdem ist sie zu mir gekommen. Und jetzt ist diese Sache in meinem Leben. Und ich weiß nicht, warum. O Gott!“ Sie schlug mit den Händen auf die Oberschenkel und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war all der Mut verschwunden, den sie in den letzten drei Wochen aus dem Nichts geschöpft hatte. Sie sah verängstigt aus, so als sei sie sich plötzlich bewusst, wie schwach die Mauern wirklich sind, die wir um unser Leben errichten.
Ich blickte Eric an, dessen Hand auf Diandras ruhte, und versuchte ihre Beziehung zu ergründen. Ich hatte ihn noch nie von einer Frau sprechen hören, hatte ihn immer für schwul gehalten. Doch abgesehen davon kannte ich ihn seit zehn Jahren, ohne dass er von einem Sohn gesprochen hätte.
„Wer ist Jasons Vater?“ wollte ich wissen.
„Was? Warum?“
„Wenn ein Kind bedroht wird“, erklärte Angie, „dann müssen wir auch Sorgerechtsfragen in Betracht ziehen.“
Diandra und Eric schüttelten gleichzeitig den Kopf.
„Diandra ist seit fast zwanzig Jahren geschieden“, antwortete Eric. „„hr Exmann kommt gut mit Jason aus, aber sie sehen sich selten.“ „Ich brauche seinen Namen“, sagte ich.
„Stanley Timpson“, erwiderte Diandra.
„Stan Timpson, der Staatsanwalt von Suff o 1k?“
Sie nickte.
„Dr. Warren“, versuchte es Angie, „da es sich bei Ihrem Exmann um den einflussreichsten Beamten in Massachusetts handelt, müssen wir annehmen, dass…“
„Nein.“ Diandra schüttelte den Kopf. „Die meisten
Leute wissen nicht einmal, dass wir verheiratet waren. Er hat eine neue Frau, drei kleine Kinder und kaum noch Kontakt zu mir und Jason. Glauben Sie mir, das hat nichts mit Stan zu tun!“ Ich sah Eric an.
„Da stimme ich zu“, sagte er. „Jason trägt Diandras Namen, nicht den von Stan, und außer einem Anruf zum Geburtstag und einer Karte zu Weihnachten hat er keinen Kontakt zu seinem Vater.“ „Werden Sie mir helfen?“ fragte Diandra.
Angie und ich blickten uns an. Dieselbe Postleitzahl zu haben wie Kevin Hurlihy und sein Chef Jack Rouse finden wir beide unserer Gesundheit nicht gerade zuträglich. Jetzt wurden wir sogar gebeten, uns geradewegs mit ihnen an einen Tisch zu setzen und sie zu bitten, unsere Klientin nicht länger zu belästigen. Wenn wir diesen Fall annähmen, wäre das eine der vielversprechendsten Methoden, Selbstmord zu begehen.
Angie las meine Gedanken. „Was?“ fragte sie. „Willst du ewig leben?“

2
    Als wir Lewis Wharf verließen und die Commercial Street hinaufgingen, hatte der überraschende Neuengland-Herbst einen hässlichen Morgen in einen wunderschönen Nachmittag verwandelt. Beim Aufwachen pfiff ein so eiskalter, gemeiner Wind durch die Ritzen unter meinem Fenster, dass es der Atem eines arktischen Gottes hätte sein können. Der Himmel war zugezogen und blass wie das Leder eines Baseballs, und die Leute kuschelten sich auf dem Weg zu ihren Autos in dicke Jacken und riesige Sweatshirts, während ihnen der Atem aus dem Mund dampfte.
Als ich meine Wohnung verließ, war die Temperatur schon auf zehn Grad gestiegen, und die Sonne sah bei ihrem Versuch, sich durch den milchglasigen Himmel zu kämpfen, wie eine Apfelsine aus, die unter der Oberfläche eines gefrorenen Teiches eingeschlossen war. Auf dem Weg zu Diandra Warrens Wohnung hatte ich meine Jacke ausgezogen, da die Sonne doch durchgekommen war, und als wir jetzt nach Hause fuhren, zeigte das Quecksilber schon gut 20 Grad an.
Wir fuhren an Copp’s Hill vorbei, und die vom Hafen herüberwehende warme Brise raschelte in den Bäumen auf der Kuppe des Hügels. Kleine Haufen glänzender roter Blätter bedeckten die Schiefersteine und wehten aufs Gras.
Rechts von uns blitzten die Kaianlagen und Docks in der Sonne, und zu unserer Linken erzählten die braunen, roten und schmutzigweissen Ziegelsteine des North End Geschichten von gefliesten Böden, offenstehenden alten Torbögen und vom Geruch dick eingekochter Saucen, von Knoblauch und frisch gebackenem Brot. „An so einem Tag muss man die Stadt einfach lieben“, schwärmte Angie.
„Auf jeden Fall.“
Sie griff sich mit der Hand an den Hinterkopf und drehte das Haar zu
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