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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt
Autoren: Dennis Lehane
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das offene Grab, das in die harte, gefrorene Erde geschnitten war.
„Es war nicht sein Kampf, und trotzdem hat er mitgemacht. Für uns. Und wir haben ihn nicht genug geliebt, um ihn da rauszuhalten.“ „Ich weiß nicht, ob das so einfach ist.“
„Ist es“, versicherte sie mir und warf die Blumen auf den Sarg im Grab.
In meiner Wohnung stapelt sich die Post: Rechnungen und Anfragen von Boulevardzeitschriften, lokalen Fernsehsendern und Radiotalks. Reden, reden, reden, dachte ich bei mir, ihr könnt so viel reden, wie ihr wollt, es ändert doch nichts an der Tatsache, dass es Glynn gegeben hat. Und dass es noch viele wie ihn gibt. Das einzige, was ich aus dem Stapel gezogen und gelesen habe, ist eine Postkarte von Angie.
Sie kam vor zwei Wochen aus Rom. Vögel flattern über dem Vatikan.
Patrick,
hier ist es wunderschön. Was glaubst du, welche Pläne schmieden die Jungs in diesem Palast momentan wohl für mich? Hier kneifen einem die Typen ständig in den Arsch, bald haue ich einen um, und dann wird daraus ein internationaler Zwischenfall, ich weiß es genau. Morgen geht’s in die Toskana. Und dann – wer weiß? Renee lässt dich grüssen. Sie meint, du sollst dir keine Gedanken über den Bart machen, sie habe immer schon gedacht, dass dir einer gut stehen würde. Typisch Schwester! Pass auf dich auf!
Du fehlst mir, Ange
Du fehlst mir.
Auf Anraten von Freunden konsultierte ich in der ersten Dezemberwoche einen Psychiater.
Nach einer Stunde teilte er mir mit, ich leide an klinischer Depression.
„Das weiß ich“, gab ich zurück.
Er beugte sich vor. „Und wie können wir Ihnen da helfen?“ Ich warf einen Blick auf die Tür hinter ihm, ich nahm an, es sei ein Wandschrank.
„Haben Sie Grace oder Mae Cole da drin versteckt?“
Er drehte sich tatsächlich um. „Nein, aber…“
„Und Angie?“
„Patrick…“
„Können Sie Phil wieder auf erwecken oder die letzten Monate ungeschehen machen?“
„Nein.“
„Dann können Sie mir nicht helfen, Doktor.“
Ich stellte ihm einen Scheck aus.
„Aber, Patrick, Sie haben starke Depressionen, und Sie brauchen…“
„Ich brauche meine Freunde, Doktor. Tut mir leid, aber Sie sind ein Fremder für mich. Sie können mir viel raten, aber es bleibt der Rat eines Fremden, und den nehme ich nicht an. Das hat mir meine Mutter beigebracht.“
„Trotzdem brauchen Sie…“
„Ich brauche Angie, Doktor. So einfach ist das. Ich weiß, dass ich Depressionen habe, aber ich kann’s im Moment nicht ändern und will es auch gar nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil es natürlich ist. Natürlich wie die Jahreszeiten. Wenn Sie erlebt hätten, was mir passiert ist, dann wären Sie verrückt, wenn Sie keine Depressionen hätten. Stimmt’s?“
Er nickte.
„Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Doktor.

Heiligabend, 19.30 Uhr
    Hier sitze ich also.
Auf meiner Veranda. Vor drei Tagen hat jemand auf einen Priester im Lebensmittelladen an der Ecke geschossen. Ich warte darauf, dass mein Leben wieder beginnt.
Mein verrückter Vermieter Stanis hat mich tatsächlich für morgen zum Essen eingeladen, aber ich habe abgelehnt, habe gesagt, ich hätte schon etwas vor.
Vielleicht gehe ich zu Richie und Sherilynn. Oder zu Devin. Er hat mich zusammen mit Oscar eingeladen, ein JunggesellenWeihnachten zu feiern. Truthahn aus der Mikrowelle und Jack Daniels in rauhen Mengen. Hört sich verlockend an, aber… Ich war früher auch schon Weihnachten allein. Des öfteren. Aber so war es noch nie. So habe ich mich noch nie gefühlt, so vollkommen allein, so verzweifelt.
„Man kann mehrere Menschen gleichzeitig lieben“, hatte Phil gesagt. „Menschen sind chaotisch.“
Ich auf jeden Fall.
Wie ich hier auf der Veranda saß, liebte ich Angie, Grace, Mae, Phil, Kara Rider, Jason und Diandra Warren, Danielle und Campbell Rawson. Ich liebte sie alle und vermisste sie.
Und fühlte mich nur noch einsamer.
Phil war tot. Das wusste ich, hatte es aber immer noch nicht ganz akzeptiert. Voller Verzweiflung wünschte ich mir, er sei noch am Leben.
Ich sah uns als Kinder zu Hause aus dem Fenster klettern und draußen treffen, erleichtert über die gelungene Flucht lachend zusammen die Strasse hinunterlaufen und durch die düstere Nacht zu Angies Fenster rennen, wo wir klopften und sie nach draußen zu uns zwei Desperados holten.
Dann zogen wir drei los, verloren in der Nacht.
Ich weiß nicht mehr, was wir bei unseren mitternächtlichen Ausflügen machten, worüber wir redeten, wenn wir uns durch den
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