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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt
Autoren: Dennis Lehane
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eines Menschen, der den eigenen Tod bereits akzeptiert hat. Durch die zwölf Stunden im Kofferraum war ihr Haar an der linken Seite flachgelegen, schwarze Mascaraspuren liefen ihr an den Wangen herunter, die Augenwinkel waren vom Benzin gerötet. Sie schien zu wissen, dass ihr Leben nicht mehr zu retten war.
„Hi, Patrick“, grüsste mich Gerry. „Bleib da stehen!“
Ich hielt zwei Meter vor dem Wagen an, eineinhalb Meter von Danielle Rawson entfernt. Mit den Fußspitzen stand ich schon im Benzin.
„Hi, Gerry!“ grüsste ich zurück.
„Du bist schrecklich ruhig.“ Er hob die Augenbraue, sie war mit Benzin getränkt. Das rostrote Haar klebte ihm am Kopf. „Müde“, verbesserte ich.
„Du hast rote Augen.“
„Wenn du das sagst.“
„Phillip Dimassi ist tot, nehme ich an.“
„Ja.“
„Du hast um ihn geweint.“
„Ja, das stimmt.“
Ich sah Danielle Rawson an und versuchte, die Kraft aufzubringen, die für ein Gefühl der Anteilnahme notwendig war.
„Patrick?“
Er lehnte sich ein bisschen weiter zurück, so dass Danielle Rawsons Kopf durch die an ihm befestigte Schrotflinte mit nach hinten gezogen wurde.
„Ja, Gerry?“
„Hast du einen Schock?“
„Keine Ahnung.“ Ich drehte mich um und betrachtete das glitzernde Eis um mich herum, den Nieselregen, die blau-weißen Lichter der Polizeiwagen, die Polizisten und Agenten, die auf den Motorhauben lagen, auf Telefonmasten hockten oder auf den Dächern rund um den Spielplatz knieten. Alle zielten auf den einen Mann. Gewehre überall. Hundert Prozent geballte Gewalt.
„Ich glaube, du hast einen Schock.“ Gerry nickte sich zu. „Und wenn, Gerry“, erwiderte ich und kratzte mich am Kopf, der vom Regen klatschnass war. „Ich hab seit zwei Tagen nicht geschlafen, und du hast fast jeden, der mir was bedeutet, umgebracht oder verletzt. Keine Ahnung, wie soll ich mich da schon fühlen?“ „Neugierig“, erwiderte er.
„Neugierig?“
„Ja, neugierig“, wiederholte er und drehte am Gewehr, so dass Danielle Rawson den Hals verrenkte und mit dem Kopf gegen sein Knie schlug.
Ich sah sie an; sie zeigte weder Angst noch Wut. Sie war besiegt. Genau wie ich. Ich wollte aus dieser Gemeinsamkeit ein Bündnis entstehen lassen, wollte das Gefühl in mich hineinzwingen, doch es passierte nichts.
Ich blickte zurück auf Gerry.
„Neugierig worauf, Gerry?“ Mit der Hand auf der Hüfte fühlte ich nach dem Kolben meiner Pistole. Er hat nicht nach der Pistole gefragt, fiel mir auf. Seltsam.
„Auf mich“, antwortete er. „Ich habe viele Menschen umgebracht, Patrick!“
„Gerüchte“, gab ich zurück.
Wieder drehte er an dem Gewehr, und Danielle Rawson musste die Knie anheben.
„Findest du das komisch?“ fragte er und legte den Finger an den Abzug des Gewehrs.
„Nein, Gerry“, widersprach ich, „ich bin apathisch.“
Hinter dem Kofferraum des Autos konnte ich sehen, wie ein Teil des Zaunes nach vorne gedrückt wurde, so dass ein gähnendes Loch entstand. Dann fiel der Zaun wieder zurück – es war kein Loch mehr zu sehen.
„Apathisch?“ wiederholte er. „Dann wollen wir mal sehen, wie apathisch du bist, Pat.“ Er griff nach hinten und holte das Baby hervor, mit der Faust hielt er es an der Kleidung fest und hob es bäuchlings in die Luft. „Ist leichter als so mancher Stein, den ich geworfen habe“, bemerkte er.
Das Baby war noch immer betäubt. Vielleicht auch schon tot, ich wusste es nicht. Die Augen waren zugekniffen, als habe es Schmerzen, auf dem kleinen Köpfchen wuchs ein zarter blonder Flaum. Es schien so weich wie eine Feder.
Danielle Rawson blickte auf und schlug dann mit dem Kopf gegen Gerrys Knie, ihre Schreie wurden von dem Klebeband über dem Mund gedämpft.
„Willst du das Baby fallen lassen, Gerry?“
„Klar“, sagte er. „Warum nicht?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Warum nicht. Ist ja nicht meins.“ Danielles Augen quollen hervor, ihr Blick verdammte mich. „Du bist ausgebrannt, Pat.“
Ich nickte. „Ich bin völlig fertig, Gerry.“
„Hol die Waffe raus, Pat!“
Ich gehorchte, wollte sie in den gefrorenen Schnee werfen. „Nein, nein“, korrigierte er, „halt sie fest!“
„Festhalten?“
„Ja, sicher. Nein besser: Lade sie und leg auf mich an! Los! Das wird lustig!“
Ich tat, wie mir geheißen, hob den Arm und zielte auf Gerrys Stirn. „Schon viel besser!“ lobte er. „Tut mir irgendwie leid, dass du so ausgebrannt bist, Patrick.“
„Nein, das stimmt nicht. Darum ging’s doch bei der ganzen Sache hier, oder
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