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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt
Autoren: Dennis Lehane
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Strassenseite ist gerade die Messe zu Ende, die meisten Gemeindemitglieder laufen bei dem ungewöhnlich warmen Wetter noch draußen herum – es sind immer noch um die fünf, sechs Grad, obwohl die Sonne schon vor eineinhalb Stunden untergegangen ist –, in der Abendluft sind ihre Stimmen deutlich zu hören, sie wünschen einander ein frohes Fest und schöne Feiertage. Sie reden über das sonderbare Wetter, wie unberechenbar es das ganze Jahr über gewesen ist, wie kalt der Sommer und wie warm der Herbst war und wie es dann plötzlich eiskalt wurde, so dass sich niemand wundern sollte, wenn es Weihnachten plötzlich wieder warm würde und die Temperaturen auf zwanzig Grad stiegen.
Jemand erwähnt Eddie Brewer, und eine Weile wird über ihn gesprochen, aber nur kurz, ich merke, dass sie sich nicht um ihre festliche Stimmung bringen lassen wollen. Sie seufzen und sagen, ach, was für eine kranke, verrückte Welt. Verrückt ist die Welt, sagen sie, vollkommen verrückt und durchgedreht.
In letzter Zeit sitze ich meistens hier draußen. Von der Veranda aus kann ich die Leute beobachten, und obwohl es hier draußen oft kühl ist, obwohl meine verletzte Hand vor Kälte steif wird und ich anfange, mit den Zähnen zu klappern, halten mich ihre Stimmen fest. Morgens trage ich meinen Kaffee nach draußen, setze mich an die frische Luft und beobachte den Schulhof auf der anderen Strassenseite, wo kleine Jungs mit blauen Krawatten und dazu passenden blauen Hosen und kleine Mädchen mit karierten Röcken und blinkenden Haarspangen herumlaufen. Ihr plötzliches Kreischen und ihre blitzschnellen Bewegungen, ihre scheinbar unerschöpfliche Energie können mich ermüden oder aufmuntern, je nach Laune. An einem schlechten Tag fährt mir ihr Gekreische wie ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Doch an guten Tagen bekomme ich eine Ahnung von dem Gefühl, wie es ist, ein in sich ruhender Mensch zu sein, vielleicht eine Erinnerung an die Zeit, als der einfache Vorgang des Atmens noch nicht schmerzte.
Das Wichtigste, hatte er geschrieben, ist der Schmerz. Wie stark ich ihn empfinde, wieviel davon ich weitergebe.
Er suchte uns heim im wärmsten, unberechenbarsten Herbst seit Menschengedenken, als das Wetter vollkommen verrückt zu spielen schien, als alles drunter und drüber ging, als blicke man in ein Loch in der Erde und sähe dort Sterne und Planeten am Boden kreisen und wenn man den Kopf zum Himmel wandte, Bäume vom Erdboden herabhängen. Als hätte er Hand an den Globus gelegt, hätte dagegen geschlagen, so dass die Welt, zumindest mein Teil der Welt, aus den Angeln geriet.
Manchmal kommen Bubba, Richie oder Devin und Oscar vorbei, setzen sich zu mir nach draußen und sprechen mit mir über die Entscheidungsspiele der Football-Liga, die Collegemeisterschaften oder die neuesten Filme. Wir sprechen nicht über den vergangenen Herbst oder über Grace und Mae. Wir sprechen nicht über Angie. Und wir sprechen nie von ihm. Er hat seinen Schaden angerichtet, es ist nichts mehr zu sagen.
Das Wichtigste, schrieb er, ist der Schmerz.
Diese Worte, geschrieben auf ein weißes DIN-A4-Blatt, verfolgen mich. Diese so schlichten Worte wirken auf mich, als seien sie in Stein gemeißelt.

1
    Angie und ich waren oben in unserem Glockenturm und versuchten, die Klimaanlage zu reparieren, als Eric Gault anrief.
Normalerweise wäre eine kaputte Klimaanlage Mitte Oktober in Neuengland kein Problem gewesen. Schon eher eine kaputte Heizung. Doch es sollte kein normaler Herbst werden. Um zwei Uhr nachmittags waren es über zwanzig Grad, und an den Fensterscheiben hing noch immer der klebrige, feuchtwarme Geruch des Sommers.
„Vielleicht rufen wir besser den Kundendienst an“, meinte Angie. Ich hämmerte mit der Handfläche gegen den im Fenster angebrachten Kasten und schaltete wieder ein. Nichts.
„Ist bestimmt der Antriebsriemen“, sagte ich.
„Das behauptest du auch immer, wenn das Auto liegenbleibt.“ „Hhm.“ Ich starrte die Klimaanlage ungefähr zwanzig Sekunden lang böse an, doch sie reagierte nicht.
„Beschimpf sie doch!“ schlug Angie vor. „Vielleicht hilft das.“ Jetzt sah ich sie böse an, doch das zeigte genausoviel Wirkung wie bei der Klimaanlage. Vielleicht sollte ich etwas an meinem bösen Blick arbeiten.
Als das Telefon klingelte, hob ich in der Hoffnung ab, der Anrufer könne sich mit solchen Anlagen auskennen, doch es war Eric Gault. Eric unterrichtete Kriminologie an der Bryce-Universität. Ich lernte ihn kennen, als er
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