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Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
Autoren: Myrna E. Murray
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    Nachts auf dem Bahnhof
     
    >> Hey du. Ja, du. Der Junge mit dem Stofftier. Hab keine Angst. Ich tue dir schon nichts. Ich sehe dich. Du bist vielleicht sechs Jahre alt und du bist ganz allein auf diesem Bahnhof. Du hast deine Eltern verloren und nun hast du niemanden mehr außer diesem Stofftier – und das so kurz nach Weihnachten. Ich hocke mich zu dir und wir begegnen uns auf Augenhöhe. Das Stofftier ist ein blauer Gorilla und du hältst ihn fest. Vorsichtig schaust du mich an und für einen Moment spiegelt sich mein Gesicht in deinen Augen.
    Wie wirke ich auf dich? Eine Frau Mitte zwanzig, die dich liebevoll anlächelt. Zumindest empfindest du es so. Du bist nicht groß und die meisten Erwachsenen hätten dich wohl übersehen in dem Gedränge der Menge, hier auf dem Bahnhof. Du frierst, denn für dich ist es kalt. Du siehst aus, als wärst du gerade aus der Oper gekommen. Okay, sagen wir aus der Aufführung fürs Kinderballett. Aber wo ist dein Mantel? Deine kurze Anzugjacke und die dazugehörende Hose sind durchnässt vom Schneeregen, der um das Gebäude tobt. Warst du ganz alleine da draußen auf den Bahngleisen?
    Das hier ist doch kein Platz für so wohlgeborene Jungen wie du einer bist. Was da alles hätte passieren können.
    Du zitterst leicht und deine Lippen haben einen Stich ins Blaue. Das könnte eine schwere Grippe geben, Kleiner. Vielleicht sogar eine Lungenentzündung. Auf jeden Fall musst du erstmal raus aus der Kälte. Du blinzelst vor Müdigkeit und siehst noch jünger aus. Was für eine seltsame Welt, in die du da geraten bist. Aber zum Glück habe ich dich ja gefunden. Jetzt wird alles wieder gut – versprochen.
    Ich frage dich nach deinen Eltern und du sagst, dass du sie verloren hast. Nur mühsam unterdrückst du die in dir aufsteigenden Tränen. Ich weiß, es ist ein verdammt großer Bahnhof ... Was ist das denn? Ein schmales Lächeln. Habe ich nicht gesehen, keine Sorge. Aber so große Jungs wie du weinen doch nicht. Nein, du weinst nicht, da habe ich mich wohl geirrt.
    Langsam stehe ich auf und gebe dir damit Gelegenheit die verräterischen Spuren aus deinem Gesicht zu wischen. Ich frage dich, ob wir deine Eltern suchen wollen und halte dir meine Hand hin. Du lächelst mich voll Hoffnung an und ergreifst sie. Deine Hand ist kalt, aber nicht so kalt wie meine. Siehst du, nicht nur Kinder kriegen kalte Hände. Ich bemerke meinen Fehler schnell, weil du mich erstaunt ansiehst.
    Es dauert nicht lange und meine Hände sind warm. Du scheinst deine Scheu vor mir verloren zu haben, denn dein Stofftier baumelt lässig an deiner anderen Hand und schleift fast auf dem Boden. Der arme blaue Gorilla! Nicht dass er sich jetzt erkältet.
    Du erzählst von deinen Eltern. Sie sind die liebsten auf der Welt, auch wenn sie manchmal zu viel arbeiten, von Juanita, deinem Kindermädchen, und von deinem großen Zimmer voller Spielsachen zu Hause. Ich höre dir zu, schenke dir meine ganze Aufmerksamkeit. Du bist so ein aufgeweckter kleiner Junge und es ist fast schade um dich, aber ich habe Hunger. Ohne dass du es gemerkt hast, sind wir aus der belebten Fußgängerpassage des Bahnhofs in die etwas ruhigere, abgelegenere Anlage der kleinen Cafés und Bars gelangt.
    Dir ist immer noch kalt, denn der Abend ist vorangeschritten und deine nassen Sachen tun ihr Übriges. Ich frage dich, ob du nicht etwas Warmes trinken möchtest. Du hältst das für eine tolle Idee und wir setzen uns in ein Irish Pub. Wie selbstverständlich sitzen wir da: eine Mutter mit ihrem Sohn. Oder etwa nicht?
    Dort bestelle ich für dich eine heiße Schokolade und für mich einen Tee, schwarz. Die nasse Jacke ziehe ich dir aus und den Gorilla setzen wir neben uns auf die Bank. Ich frage dich, wie er heißt.
    „ Dobby“, sagst du und mir wird klar, dass du zur Harry Potter Fangemeinde gehörst. Das Thema beschäftigt dich lange und du erzählst mir, was du alles von ihm hast. Dein Zimmer gleicht einer Kopie der Schlafräume in Hogwarts und eigentlich bist du davon überzeugt, ein heimlicher Zauberer zu sein, genau wie Harry.
    Na, wenn das deine Eltern wüssten. Aber wer weiß, vielleicht bist du ja wirklich ein Zauberer und wir sehen uns irgendwann wieder. Nichts ist, wie es scheint, und ich bin selbst das beste Beispiel dafür. Je länger du redest, umso mehr stelle ich fest, dass du eines dieser Kinder bist, die reich und verwöhnt sind. Reich, aber einsam. Das macht es mir weder leichter noch schwerer. Es gibt viele von deiner
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