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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe
Autoren: Gaia Coltorti
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1
    Weißt du noch? Ihr wart nichts weiter als zwei Schüler nach einer Liebesbegegnung, und sie schlief. Sie atmete an deinem Hals, mit ihrer süßen Nähe machte sie dich glücklich.
    Die Vorhangfalten. Das Sonnenlicht Veronas, das durch die Vorhänge fiel und das Zimmer erhellte, während du dich in dieser Aura erlesenen Genusses verlieren wolltest. In der Wohnung in der Via Anfiteatro herrschte Ruhe, eine Atmo sphäre vollkommenen Friedens, wie die Nachmittagsstille sie manchmal wie durch ein Wunder hervorbringt. Du hast das Stimmengewirr der Menschen, des Lebens da draußen, wahr genommen wie ein leises Hintergrundgeräusch, vergleichbar mit dem Rauschen eines Flusses. Und überwältigt von Zärtlichkeit hättest du deiner Geliebten gern übers Haar gestri chen. Im Schlaf war sie liebenswert, aber wenn sie wach war, verwandelte sie sich in eine verwöhnte Siebzehnjährige, die sich nichts sagen ließ.
    Arrogant war sie schon, und trotzdem hatte sie dein Herz erobert.
    Seit Wochen, du weißt es, zog sich eure verzweifelte, aussichtslose Affäre nun schon hin. Manchmal konntest du dich in einen Außenstehenden hineindenken und erschrecken. Ahnen, wie verstörend eure Liebe auf andere wirken musste – »abstoßend« war das Wort, das dir dann in den Sinn kam. Aber man brauchte es nur zu ignorieren, und schon lief alles, einem seltsamen Schicksal gehorchend, einfach weiter.
    Dabei war sie es, die die Dinge wieder in Gang brachte, womöglich aus purem Leichtsinn und Hochmut. Auch wenn die, die du liebtest, sich vermutlich nur hinter einem Schutzschild aus Aggressivität verstecken wollte. Du hattest dich daran gewöhnt, dass sie nach außen hin täuschend zerbrechlich wirkte, und das fiel auch zuerst ins Auge: der magere Körper einer Gymnastin, der aussah, als würde er sofort Schaden nehmen, wenn deine von Begehren überwältigten Hände und Arme ihn an dich zogen. Erst später hast du gemerkt, dass sie körperlich stabil war – seelisch vielleicht weniger.
    Von nun an würde dein Name – Giovanni – ohne den ihren keinerlei Bedeutung mehr für dich haben; ein Name, den du nur zu hören brauchtest, damit dir das Herz aufging: Selvaggia. Denn vor ihr warst du ein Niemand, einer von vielen, der übersehen wurde, in der Menge verschwand.
    Jeder, der dich kannte, hielt dich für intelligent, wohlerzogen, etwas apathisch vielleicht, auf jeden Fall ruhig: Jemand, der am Wochenende mit Freunden etwas trinken ging, leidenschaftlich gern schwamm, davon träumte, eines Tages an den nationalen Meisterschaften teilzunehmen, mehr aber auch nicht. Doch dann kam sie, und durch eine unaufhaltsame Verwandlung wurde Giovanni zu Johnny, und Johnny war wie Giovanni, nur lebenslustiger. Einer, der wusste, was er wollte, eine Art Auserwählter, der sein Leben auf wundersame Weise genau vor sich sah: voller Gefahren, aber gleichzeitig zu höchstem Glück bestimmt.
    Selvaggia war dein Ein und Alles geworden in diesen hundert Tagen, in denen ihr euch liebtet. Jeder Atemzug galt ihr. Sie war der Sinn deines Lebens, der Grund für extreme Entscheidungen, für nie gekanntes Leid, und auch für nie gekannte Freuden. Dass es so kommen musste, hattet ihr schon bei eurer ersten Begegnung gewusst, so als wärt ihr nur geboren worden, um euch zu lieben.
    Vielleicht wäre nichts seltsam daran gewesen, weder an euch noch an eurer aussichtslosen Liebe, wenn das Mädchen, das neben dir schlief, seinen Kopf auf deine Brust legte und dich jedes Mal fast vergehen ließ, wenn du es auf den Mund küsstest, nicht deine Schwester gewesen wäre.

2
    Weißt du noch? Die Sommerferien nach der zwölften Klasse hatten gerade erst begonnen, und bis dahin war Selvaggia mehr oder weniger eine Fremde für dich gewesen. Eure Eltern hatten sich getrennt, als ihr noch ganz klein, ja ungefähr ein Jahr alt wart, sodass du nicht einmal deine Mutter richtig kanntest: Du sahst sie zwar ab und zu bei ein paar kurzen, übers Jahr verteilten Besuchen, doch für mehr hatte sie wegen ihres anstrengenden Polizeijobs keine Zeit.
    Nicht dass du sie für ihre Abwesenheit jemals gehasst hättest. Du wusstest nur, dass du einige ihrer Entscheidungen nicht teilen konntest wie die, nach Lust und Laune den Partner zu wechseln und es deinem Vater Daniele auch noch brühwarm hinzureiben: dem fünfundvierzigjährigen Spitzennotar,
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