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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Autoren: Ju Honisch
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unvorsichtig geworden. Alte Feindschaften galten ihnen als Märchen, die wohliges Gruseln hervorriefen, wenn die Schanchoyi auf einem Fest davon erzählten oder Balladen über die Heldentaten der Vorfahren sangen. Gefahr war bis vor Kurzem etwas gewesen, wonach man sich beinahe gesehnt hatte, war doch das Leben allzu bequem und sicher. Alle konnten sich gemächlich nur dem Naheliegendsten widmen.
    Die Ra-Yurich hatten sich mit ihrer Herrschaft beschäftigt, mit dem Ausbau ihrer Heimstatt Kerr-Dywwen, mit dynastischen Verbindungen, Fortpflanzung, Erhalt dessen, was war. Und mit dem Vergnügen des Lebens an sich.
    Die Re-Hoyhn hatten sich damit beschäftigt, wie sie die Herrschaft der Ra-Yurich ablösen könnten. Die Re-Gyurim wiederum hatten sich darauf konzentriert, wie der leise, nie offen ausbrechende Streit zwischen den Ra-Yurich und den Re-Hoyhn zum Vorteil der Re-Gyurim genutzt werden konnte, subtil und höflich.
    All das hatte ihnen Zerstreuung bereitet, denn – so hatte man geglaubt – die Zeiten, in denen Einhörner sich gewaltsam mit Feinden auseinandersetzen mussten, waren vorbei und hatten einer Epoche der Schönheit, Weisheit und des Friedens Platz gemacht.
    Doch dann war Edoryas verschwunden. Nach Sonntal hatte er galoppieren wollen. Ob er es je erreicht hatte, wusste niemand. Sein Leichnam war viele Meilen entfernt von Kerr-Dywwen am Fluss aufgetaucht, zerbissen und angefressen. Mit dem Gesicht im Wasser hatte er dagelegen, in menschlicher Gestalt. Seine Hände zeigten Kampfspuren, seine Unterarme Abwehrverletzungen.
    Sonntal. Da stand er nun also, Fürstensohn Kanura, in dem Tal und vor dem Gewässer, an das er vielleicht seinen Freund und Gefährten verloren hatte.
    Eine wütende Träne löste sich aus seinen großen, goldbraunen Augen und rann ihm über das Gesichtsfell. Einen Augenblick lang wünschte er sich Hände, um sie abzuwischen, doch erneut widerstand er der Versuchung, sich zu wandeln. Angespannt tippelte er von einem Huf auf den anderen.
    Was tat er an diesem einsamen Ort? Es war nicht weise gewesen, allein hierherzukommen. Tatsächlich wusste er nicht einmal genau, was er hier wollte. Spuren suchen? Antworten finden?
    Wenn man jemanden verlor, der einem wichtig war, wollte man eine Erklärung. Man wollte, dass irgendetwas einen Sinn ergab, doch Edoryas’ Tod hatte keinen Sinn ergeben! Kein Zusammenhang mit was auch immer ließ sich herstellen.
    Und die Uruschge, denen die Schanchoyi Edoryas’ Tod anlasteten, hatte niemand zu Gesicht bekommen. Solange Kanura sie nicht mit eigenen Augen sah, blieben sie ein Schemen, ein altes Wort, das die Weisen seines Volks nur aufgebracht hatten, um eine Erklärung für das Unerklärliche zu geben.
    Kanura schüttelte den Kopf. Vielleicht war es ja gut, denn allein die Uruschge zu sehen, konnte schon bedeuten, ihnen zu unterliegen. Vielleicht aber auch nicht! Was wäre, wenn die Uruschge nur als eine passende Erklärung für etwas anderes, noch Schrecklicheres angeführt wurden?
    Plötzlich begann sich die Wasseroberfläche von der Mitte her zu kräuseln. Kanura setzte mit einem Sprung zurück und bekämpfte den Instinkt, seine Hinterläufe gegen den Boden zu drücken und davonzugaloppieren. Er war kein Pferd, er war ein Tyrrfholyn! Das Fluchtverhalten der weitläufigen Verwandten stand ihm als Fürstensohn der Ra-Yurich nicht zu, auch wenn sein Herz ihm bis in den Hals hinein laut und heftig schlug. Fast schien es durch das stille Tal zu hallen.
    Wenn die Schanchoyi recht behielten, hatte Edoryas eine solche Begegnung nicht überlebt.
    Flucht oder Kampf? Kanura trat ein paar Schritte vom Ufer zurück und senkte das Horn. Es war nicht nur Sinnesorgan, es war auch Waffe und Sitz seiner Magie. Ob es über die Magie der Uruschge zu siegen vermochte, war ungewiss.
    Vielleicht würde auch er bald tot am Wasser liegen. Er hätte nicht allein hierherkommen sollen.

Kapitel 2
    » Wo treibt sich Kanura herum? «
    Hra-Esteron, Leithengst und Fürst der Ra-Yurich, sandte seine Frage geräuschlos in die Köpfe der Herde, die auf der Wiese mit dem saftigsten Gras stand, der Prunkweide vor Kerr-Dywwen. In ihrem Rücken ragten die hellen Bauten des Palastes in den strahlenden Sommerhimmel, aus wuchtig breiten Untergeschossen filigran nach oben zulaufend. Auf dieser Weide versammelte sich der Hof in seiner freien Zeit. Einhörner hatten Sinn für Prunk und Ästhetik, doch außerhalb des Hofzeremoniells mochten sie es unkompliziert.
    » Er trauert um seinen Freund «
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