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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Autoren: Ju Honisch
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, antwortete Enygme ebenso still. Ihre goldgelb schimmernde Isabellfärbung hatte sie an ihren Sohn weitervererbt. Den gewaltigen Knochenbau allerdings hatte Kanura von seinem Vater, dem Hra, dem Fürsten von Kerr-Dywwen und Beschützer von Talunys. Er war ein Rappe, groß, überaus muskulös und unangefochten Herr seiner Sippe und aller Tyrrfholyn. Aller Tyrrfholyn auf der südlichen Seite der Trutzberge, teilte doch diese Grenze Talunys unüberwindlich in zwei Hälften.
    Doch Einhörner hatten die Angewohnheit zu ignorieren, was sie nicht ändern konnten, und so sah der weidende Hofstaat möglichst nicht in ihre Richtung.
    Heute jedoch machte Enygme, die Fürstin und Leitstute, eine Ausnahme. Sie hob den Kopf, schüttelte die blonde Mähne und blickte ungehalten auf die schroffe Nordgrenze ihres Reiches.
    » Ich hoffe, er macht keine Dummheiten « , schickte sie ihre Gedanken ihr Horn entlang in den Wind. » Er ist zu wild und stürmisch. «
    Hra-Esteron rollte mit den Augen und schnaubte stolz. Wild und stürmisch schienen ihm keine schlechten Eigenschaften für einen Fürstensohn zu sein. Enygme sah ihn strafend aus großen Augen an.
    » Wir müssen der Sache auf den Grund gehen! « , antwortete Hra-Esteron, nun auch ernst. » Ich habe eine Beratung mit den Schanchoyi und den Schreibern einberufen. «
    » Die Schanchoyi kennen ihre Legenden, doch befähigt sie das dazu, die Gegenwart richtig zu bewerten? « , wandte Enygme ein. » Für sie ist das Versmaß von größerer Bedeutung als der Wahrheitsgehalt ihrer Berichte – und vielleicht ist die Wahrheit ja schon vor langer Zeit der Kunst gewichen. Wir glauben zu gerne, dass Schönheit auch Wahrheit ist. Vielleicht hören wir seit Generationen das, was wir hören wollen, anstatt das zu lernen, was die Wirklichkeit war? «
    » Die Uruschge hat es wirklich gegeben! « , schnaubte Hra-Esteron. » Wir haben gedacht, sie wären von dieser Welt verschwunden. Doch sie sind wieder da. Und sie morden! «
    » Sie waren mir immer zu grausam, als dass ich an ihre Existenz tatsächlich geglaubt hätte « , seufzte Enygme. » Ihre Bösartigkeit ist in ihrer ganzen mörderischen Hinterlist zu unbegreiflich. Was hat jemand davon, so böse zu sein? «
    » Nur an das Schöne zu glauben, macht die Welt nicht gut, meine liebe Enygme. Das Grausame hat es immer gegeben. Die Schreiber haben ihre eigenen Legenden aus der Menschenwelt. Auch sie kannten dort die Uruschge. Kelpie ist ihr Name für unsere Feinde in der Menschensprache. «
    » Das klingt beinahe niedlich « , flüsterte Enygmes Schwester Aruyen. Sie wandte den Kopf ab, um zu zeigen, dass sie das Herrscherpaar nicht unterbrechen und damit keinesfalls die Rangordnung der Herde infrage stellen wollte.
    Das Fell an Hra-Esterons Hals zuckte. Er blickte hoch, an Aruyen vorbei.
    » Lasst uns zur Versammlung gehen « , befahl er. » Wenn wir doch an nichts anderes denken können als an das Schreckliche, so kann uns auch das friedliche Grasen nicht ablenken. «
    Enygme seufzte. Sie wandte sich Hra-Esteron zu. Dieser hob sein elfenbeinfarbenes Horn in den Himmel, stieg auf die Hinterläufe, schüttelte seine Mähne – und warf sich aus der gleichen Bewegung heraus sein schwarzes Haar aus einer nun menschlichen Stirn.
    » Gehen wir! « , wiederholte er mit fester Baritonstimme.
    War er als Einhorn schon groß, so überragte er in seiner menschlichen Form alle anderen um Haupteslänge. Esteron war ein muskelbepackter Hüne, langbeinig, breitschultrig, dazu wuchtig, ohne dick zu sein. Er trug schwarze Kleidung, eine wildseidene Tunika mit silbernen Bordüren und weiten Ärmeln und dazu eine schwarze Hose aus feingewebtem Leinen. Seine Stiefel, kunstvoll geschustert aus der glänzenden Lederpflanze, reichten ihm bis übers Knie.
    Enygme blickte ihn an und wusste, dass sie ihn liebte. Wie immer direkt nach der Wandlung vermisste sie das Horn auf seiner Stirn, von dem nur noch ein kleines Muttermal an der linken Schläfe zeugte. In Menschengestalt unterschied die Tyrrfholyn vom Aussehen her nichts von anderen Menschen, außer vielleicht ihre Pracht und Schönheit.
    Eine menschliche Bedienstete kam aus der Richtung des Palastes angelaufen, blieb ehrfurchtsvoll am Rand der Weide stehen und knickste.
    » Hoheiten « , sagte sie und neigte den Kopf. » Eryennis von den Re-Gyurim wird vermisst. Ihr Vater Hre-Hyron lässt höflichst fragen, ob Ihr wisst, wo sie sein kann. «
    Inzwischen hatte sich auch Enygme in eine Frau verwandelt. Sie strich
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