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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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VORWORT
    Das Buch, das Sie in Händen halten, ist aus einem Bedürfnis heraus entstanden. Meine Mutter hatte eine Geschichte – eine Geschichte, die ihr so dick und fett in der Brust saß, dass sie sich dank einer Kraft, die mächtiger war als ihr eigener Wille, gezwungen sah, sie mir, ihrem Sohn, anzuvertrauen. Mit der Absicht, dass ich sie, wäre mir ihr Inhalt erst einmal bekannt, zu einem späteren Zeitpunkt an meine Töchter weiterreichen würde. Und so würde sie sich fortsetzen. Die Geschichte würde nie verloren gehen und durch immerwährendes Wiedererzählen womöglich so an Majestät gewinnen, dass sie es mit den Legenden aufnehmen könnte, die man sich hier auf der Insel Jamaika erzählt, wenn man in einem der eleganten Herrenhäuser auf Porträts oder Büsten weist.
    Für eine großmütige alte Frau, die viele Jahre ihres Lebens in schlimmen Umständen verbracht hatte, war dies ein ehrgeiziges Vorhaben. Ihr Wunsch heischte Respekt.
    Unglücklicherweise begann meine Mutter, mir ihre Chronik während einiger meiner arbeitsreichsten Stunden vorzutragen. Und trotzdem schien diese liebenswürdige Frau es niemals müde zu werden, meine Gesellschaft zu suchen: früh am Morgen, in der Hitze des Mittags oder spät, spät in der Nacht. Sie folgte mir durchs ganze Haus: wenn ich gerade dabei war, mich zu waschen oder anzukleiden; wenn ich darauf wartete, dass mir meine Mahlzeit gebracht wurde; wenn ich kaute; wenn ich den Teller fortschob; wenn ich in ein Gespräch mit meiner Frau vertieft war; selbst an meinem Arbeitsplatz, wo mehrere meiner Männer begierig auf meine Anweisungen warteten. Es erfüllte
mich mit Beschämung, dass ich nicht hinreichend Zeit fand, ihrer Erzählung Aufmerksamkeit zu schenken – dass ich meist nur so tat, als hörte ich mir ihre Geschichte an, obwohl doch in Wahrheit kein einziges Wort davon an mein Ohr oder an mein geistiges Auge drang. Ach, wie oft nickte ich ihr zu, wenn ein kräftiges Kopfschütteln erforderlich gewesen wäre! Ich will hier nicht auf die Schwierigkeiten eingehen, die dadurch in meinem Haushalt entstanden, aber seien Sie versichert, dass sie zahlreich waren. Nein, wenden wir uns lieber mit Vergnügen der Lösung zu, die sich schließlich fand.
    Ein Leseheft – eine kleine Broschüre. Die Worte meiner Mutter auf Papier gedruckt, die Schrifttype zur Erleichterung der Lektüre in schwärzester Tinte. Den Einband könnte ein grober Holzschnitt zieren, ein Pferd oder ein Karren, ein Bündel Zuckerrohr (denn ich kenne einen Mann, der diese Dinge mit solcher Kunstfertigkeit wiederzugeben versteht, dass man sich in dem trügerischen Glauben wiegt, den Gegenstand selbst vor sich zu sehen).
    Ich erklärte meiner geliebten Mutter, dass ihre kostbaren Worte, waren sie erst einmal ausgesprochen, für alle Ohren außer meinen verloren seien.Wenn sie sie jedoch Papier anvertraute, dann könnte ich ihre Geschichte nach Belieben durchlesen, und nicht ein Wort davon würde eingebüßt werden, falls sich mein unruhiger Geist anderen Dingen zuwandte. Und noch besser, die überzähligen Bände, die aus der Druckerpresse kämen, könnten auf der ganzen Insel verkauft werden, sodass sich auch andere Menschen, von nah und fern, an Mutters gewissenhafter Erzählung erfreuen konnten.
    Meine Mutter hatte ihr Leben jedoch als jemand begonnen, für den das Schreiben der Buchstaben A, B, C zur Folge hätte haben können, ausgepeitscht zu werden, denn sie war als Sklavin geboren worden. Das Unterfangen, ihre Geschichte in Worte zu kleiden, die in eine Druckfassung gebracht und gelesen werden konnten, war für ihre arme Seele anfangs höchst beunruhigend.
Sie sorgte sich und folgte mir durchs ganze Haus, durch die ganze Stadt, berichtete mir in vielen Worten von der Angst, die sie habe, ihre Geschichte zu Papier zu bringen. Sie fürchtete, ihr fehle das Geschick, sich in dieser Form verständlich zu machen; und was, wenn ihr bei der Schilderung ein Fehler unterlaufe? Dann stünde er ewig und drei Tage da, sodass sich jedermann über ihre Irrtümer amüsieren würde!
    Mein Gewerbe ist das eines Buchdruckers. Und obwohl es normalerweise gar nicht zu meinem Charakter passt, mit meinen Erfolgen zu prahlen, so muss ich doch darauf hinweisen, dass viele – seien es Schwarze, Weiße oder Farbige – mich für einen der besten Buchdrucker auf dieser Insel halten. Meine besondere Fähigkeit besteht darin, selbst flüchtig hingekritzelten Manuskripten Sinn abzugewinnen. Man gebe mir eine Handschrift, die
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