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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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hatte massieren wollen, entlockte Kitty den Ausruf: »Ja nicht berühren, bloß nicht berühren!« Zum Glück konnte Rose sich gerade noch ducken, bevor Kittys Hand ausholte, um sie quer durchs Zimmer zu schleudern – denn der Schlag wurde mit solcher Wucht ausgeführt, dass sich die winzige Rose mit Sicherheit im Flechtwerk der Wand wiedergefunden hätte.
    Schließlich bat Rose, Kitty solle doch wenigstens ein paar Bissen von den Brotfrüchten essen, die man ihr gebracht hatte. Als Kitty sich weigerte, aß Rose die Brotfrüchte selbst auf und wiederholte in Tönen, die von Befehlen bis zum Betteln reichten, Kitty solle sich auf die Matratze hocken, um sich Erleichterung von den Geburtswehen zu verschaffen. Über eine
Stunde lang flehte Rose sie an, bis Kitty lauter als ein Hahn vor Tagesanbruch kreischte und schrie: »Still jetzt, Miss Rose – dein Geplapper, ich kann’s nich’ mehr ertragen.«
    In diesem Augenblick sank Kitty auf die Knie und kroch auf die Matratze, wobei ihr schwerer Bauch den schmutzigen Fußboden streifte. Bald schon hatten sich die Zuckerrohrabfälle, mit denen die Matratze ausgestopft war, vollgesogen mit Kittys Schweiß – es gluckste geradezu unter ihr, als sie sich gepeinigt hin- und herwarf, um eine Position zu finden, die ihre Wehen linderte. Endlich aber konnte Rose an all die Körperteile herangelangen, an die sie sich herantasten musste, um mit ihren legendenumwobenen Manipulationen zu beginnen.Vor der Tür der Hütte wies Rose ein paar Kinder an, einen Eimer Wasser vom Fluss zu bringen. Sie fluchte, als sie den winzigen Tropfen Wasser sah, den die nutzlosen Blagen ihr gereicht hatten, ehe sie sie aus der Hütte scheuchte. Dann aber tauchte Rose einen Lappen in den Eimer und presste das kühle Wasser auf Kittys aufgesprungene, trockene Lippen.
    Nach weiteren zwei Stunden begann Kitty zu brüllen. Sie kniete auf der Matratze, stemmte die Hände gegen die Wand und schrie, dieser Schmerz sei schlimmer als alles, was sie je erduldet habe. Oh, komm nur, Treiber, peitsche sie, brandmarke und versenge sie, denn Kitty war sich sicher, dass keiner der geringfügigen Schmerzen, die die Menschheit zu erleiden hatte, ihr jemals wieder etwas anhaben konnte. Diesen Schmerz konnte nur ein Dämon hervorrufen; seine Klauen gruben sich tief in ihr Innerstes, damit dieses Kind zur Welt kam.
    »Ich sterbe, Miss Rose«, brüllte Kitty. »Ich sterbe!«
    »Das Wurm kommt bald, bald kommt’s«, flüsterte Rose zärtlich.
    »’s kommt nicht. Ich sterbe hier«, jammerte Kitty.
    In diesem Augenblick trat der Aufseher, Tam Dewar, in die Hütte und schrie: »Was ist das für ein Lärm? Halt’s Maul, verdammt noch mal. Mir tut der Kopf weh.«

    Von dem heillosen Krach, der da an seine Ohren schlug, war er beim Abendessen gestört worden und stand nun schwer atmend da wie ein Mann, der ernstlich entrüstet ist. Das heißt, bis ihn der Gestank in Kittys Hütte überwältigte. Sein Gesicht, das sich vor Zorn in Falten gelegt hatte, verzog sich zu einer angeekelten Grimasse – als kaue er ranziges Fleisch. Er stellte seine Leuchte auf den Boden, um nach seinem Taschentuch zu kramen und Mund und Nase zu vermummen, dann rief er durch das Tuch hindurch: »Was geht hier vor?«
    Rose machte einen Knicks vor dem Aufseher und sagte: »Sie kriegt ’n Kind, Massa – ’s kommt bald«, während Kitty sich rasch flach auf die Matratze legte und ihre Blöße, so gut es ging, mit ihrem nassen Hemd bedeckte. Sie bemühte sich, stillzuliegen, und hob nur die Augen, um in Tam Dewars verkniffenes Gesicht zu blicken. Beim Schein der Leuchte wirkte sein Mund noch schiefer als sonst, und sein kahler Schädel sah aus, als sei er von einer Eierschale gekrönt. Kitty konnte jedoch nicht lange stillliegen, denn ein Ei von der Größe des Mondes drängte aus ihr heraus. Sie stieß einen so gellenden Schrei aus, dass Tam Dewar in die Knie ging und zu wimmern begann, als sei er es, der die größte Not leide.
    »Sei ruhig, sei ruhig, sag ich dir!«, jammerte er laut, bevor er Rose befahl: »Stopf ihr das Maul!«
    Rose sah den Mann voller Verwunderung an. »Stopf ihr das Maul mit einem Lappen, mach schon, mach schon«, beharrte er. Rose nahm einen Lappen, tauchte ihn in den Eimer mit Wasser und wischte damit über Kittys Lippen. Aber Tam Dewar schnaufte verärgert und befahl: »Doch nicht so!« Er schnappte sich den Lappen, den Rose in der Hand hielt, dann stopfte er das feuchte Tuch in Kittys Mund. »So, du dumme Kuh, so!«
    Rose
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