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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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kleinen Bettchen, bemuttert von einer Schwarzen mit hässlicher Haut, die nicht die leiseste Ahnung hatte, weshalb ihr Wurm so gellend schrie.
    Die meisten nächtlichen Stunden ging Kitty in ihrer winzigen Hütte auf und ab und bemühte sich, dem Herzen des Kindes, auf dem ein Fluch lasten musste, Frieden zu verschaffen. War das Kind dann so weit beruhigt, dass Kitty endlich die Lider
schließen konnte, um zu schlafen, befahlen ihr die schrillen Töne, die der Treiber auf dem Muschelhorn blies, sie wieder zu öffnen für einen neuen Arbeitstag. Wenn Kitty dann bereit war, den Säugling zu stillen, damit sie mit ihrer Arbeit beginnen konnte, beschloss das Kind, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, um wie eine Tote zu schlafen. Und erst nachdem sie sich das schlafende Kind auf den Rücken gewickelt und ihre Arbeit in der zweiten Kolonne aufgenommen hatte – Bündel ausgepresster Zuckerrohrstangen einsammeln und vom Sudhaus zum Bagasselager schleppen –, spürte Kitty das sanfte Anschwellen der Lungen ihres Wurms, wenn July aufwachte und nach ihrer verpassten Nahrung verlangte.
    Ach, man muss schon Mitleid haben mit der armen Kitty, denn nichts erboste die Neger, die rund um sie herum arbeiteten, so sehr wie das ununterbrochene Geplärr des Kindes, das den ganzen Tag hindurch auf ihren Rücken gebunden war. In der zweiten Kolonne waren sich alle einig, dass nicht einmal das schrille Quietschen der Karren, die das Zuckerrohr von den Feldern zur Mühle schafften – ja, selbst der ramponierte Karren nicht, den Cornet Jump lenkte –, so an ihren Nerven rüttelte.
    Der Ruf des Treibers Mason Jackson, wenn er die glücklosen Sklaven aufforderte, das hoch gestapelte Zuckerrohr von den Karren abzuladen, gellte zwar ebenso durchdringend, zerriss ihnen aber nicht das Trommelfell wie dieses Balg. Und die Ächzer und Seufzer, die Miss Anne und Miss Betty ausstießen, wenn ihre schmerzenden Köpfe mit stacheligen Zuckerrohrbündeln beladen waren, klangen im Vergleich dazu recht sanft. Ebenso ihr schlapp-schlapp schlurfender Gang, wenn sie die triefenden Stangen zu der Stelle trugen, wo sie gehäckselt wurden.
    Das Rattern des sich langsam drehenden, von Ochsen getriebenen hölzernen Mühlrads, das müde Klippklapp der Hufe, wenn er die Tiere zwang, Runde um Runde ihres sinnlosen Voranschreitens zu drehen, kam Benjamin Brown nie wieder ganz so laut vor. Selbst das Glucksen des zähen Safts, der aus den
splitternden Stangen gepresst wurde, oder das laute Geschnatter von Miss Bessy und Miss Sarah, die auf dem Boden um ihn herum die ausgepressten Stängel zusammenharkten, zerrte nicht so stark an seinen Nerven.
    Und Dublin Hilton, der Sudmeister (er, der schon vom bloßen Hinsehen oder vom Einatmen des Dunstes wusste, ob der Sud sich verdicken würde), selbst er kann dir bestätigen, dass nicht einmal das Knistern der Flammen unter seinen Kupferkesseln, das Blubbern und Brodeln des kochenden Zuckers oder das tiefe Rumpeln der gefüllten Fässer, die am Boden entlanggerollt wurden, verhindern konnten, dass das Geheul dieses Balgs an seine Ohren drang.
    Nur wenn der Ochsenziemer des Treibers zischte, wenn er anordnete, was wohin gebracht werden sollte, war es, wie alle in der zweiten Kolonne bekannten, irritierender für sie als der ohrenbetäubende Lärm, der von dem winzigen Wesen ausging, das da auf Miss Kittys Rücken gebunden war.
    »Bisschen Rum auf die Zunge vom Kind, Miss Kitty«, rief Peggy Jump aus der ersten Kolonne am Ende eines jeden Tages von der Schwelle ihrer Tür. Während Elizabeth Millers Ratschlag lautete: »Schütteln, bis das Balg weich is’«, und Kittys Freundin Miss Fanny meinte: »Geh zu Obeah – die sagt ’nen kleinen Zauberspruch.«
    Was Kittys Nachbarinnen indessen nicht beobachteten: Manchmal konnte Kitty in der Stille der Nacht July damit beruhigen, dass sie ihr mit leiser Stimme ein Lied vorsang. » Mama gon’ rock, mama gon’ hold, little girl-child mine .« Dann verdrehte July ihre schwarzen Augen zu Kitty, und ihre Lippen ahmten sachte die Mundbewegungen ihrer Mama beim Singen nach. Dann herzte das betörte Kind seine Mama – umschlang mit seinen Ärmchen ihren Hals und gab ihr zärtliche, sabbrig-feuchte Küsse.
    Wenn Kitty ihr geliebtes kleines Mädchen auf den Knien hüpfen ließ, gluckste July vor grenzenlosem Vergnügen und zwitscherte fröhlich wie ein flügger Vogel in seinem Nest. Zu
solchen Zeiten gab es keine Klapse, keine Verwünschungen, keine Flüche, denn July sah ihre Mama mit
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