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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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Rindfleischknappheit. Fünf weitere über den Wunsch nach einem neuen Hut, den sie zu ihrem herrlichen rosa Taftkleid tragen könnte. Keine Butter, sondern wieder nur diese schreckliche Alligatorbirne! Das ist nun wirklich eine Entbehrung, die die zehn Seiten wert ist, die sie benötigt hat, um sie zu schildern. Drei Kapitel sind wahrlich kein Übermaß für die Klagen einer anspruchsvollen Weißen, die sich in eine Gesellschaft verirrt hat, die ihr zu glanzlos erscheint. Und was die Trägheit und Dummheit ihrer Sklavinnen betrifft (hier solltest du ein Taschentuch zur Hand haben, um dir die Tränen zu trocknen), so kann nur das Bedürfnis nach Schlaf sie davon abhalten, noch mehr Seiten zu füllen, um sich auch über dieses verdrießlichste aller Themen zu äußern.
    Und all diese besonderen Widerwärtigkeiten allein dem Zucker zuliebe, der den Menschen in England den Tee versüßt und die Zähne schwärzt. Aber verlass dich nicht auf mich, lies diese Bände lieber selbst. Denn ich hab’s getan. Und für mich war es erschütternd, dass etwas so Erbauliches wie das Bücherlesen eine unbedarfte weiße Missus dazu einlädt, mir ihre Torheiten in den Kopf zu rülpsen.
    Deshalb soll’s mich nicht bekümmern, wenn ich Leser verliere, die sich derlei Geschichten wünschen. Du aber, wenn du eine Geschichte nach meiner Art hören möchtest, verweile.
    Beim Schreiben habe ich eine Tasse gesüßten Tees neben mir stehen (obwohl er für meinen Geschmack nicht süß genug ist,
doch hier, auf dieser Zuckerinsel, hat Süße einen hohen Preis); die Lampe brennt hell genug, um ihren Schein auf das Papier zu werfen, das vor mir liegt; das Fenster ist geöffnet, und eine Brise kühlt mir den Nacken. Doch warte … ein lästiges Insekt hat beschlossen, immer wieder gegen meine Lampe anzufliegen. Es zu verscheuchen wird nichts nützen, denn es glaubt, wo Licht ist, wächst das Rettende auch. Aber sein beharrliches Brummen lenkt mich ab. So hab ich’s eben auf einem aufgeschlagenen Buch zerquetscht. Sobald ich seinen blutigen Kadaver von der Seite gewischt habe (denn die gehört zu einem Buch, in dem mein Sohn gelesen hat), werde ich in meiner Erzählung fortfahren.

ZWEITES KAPITEL
    July kam auf einem Zuckerrohrfeld zur Welt.
    Ihre Mama stand tief hinabgebeugt und hieb mit ihrer Machete auf eine dicke Zuckerrohrstange ein. Aber von nur einem Schlag fiel das Rohr nicht um. Ermattet richtete sie sich auf, um den wilden Regenguss kühlend über Gesicht und Hals rinnen zu lassen. Sie blinzelte in die Regentropfen und wischte sich mit der Handfläche über die Stirn. Als ihr von den gezackten Rändern der Blätter grober Staub in die Augen geriet, legte sie den Kopf zurück, um sie sich vom Balsam des Regens auswaschen zu lassen. Dann bückte sie sich wieder, um das untere Ende des Zuckerrohrs zu ergreifen und ihm einen weiteren Schlag zu versetzen.
    So beschäftigt war sie damit, das triefende Rohr von seinen Blättern zu befreien – selbst in der Nässe des Regens flogen deren leicht abbrechende Ränder wie Distelwolle um sie herum –, dass sie gar nicht bemerkte, dass ihr soeben ein Kind aus dem Schoß gefallen war. Genau dort kam July zur Welt – glitt hinaus und plumpste blutig und zitternd auf ein stacheliges Lager aus Zuckerrohrabfällen.
    Als July so ungeschützt auf dem Boden lag, besah sie sich den Albtraum aus hohen Zuckerrohren, die sie finster, zerfetzt und unordentlich von allen Seiten anstarrten, und spürte, wie der Saum eines rauen Wollrocks seine schwere Nässe über ihren nackten Leib schleifte. Dann, auf einmal, erblickte sie die mächtige schwarze Frau, die ihre Mama war – wie sie mit einem langen Stängel kämpfte, ihn in die Luft schwang und die Blätter der ganzen Länge nach abtrennte, bevor sie den nackten
Halm zu Boden warf. Die Arme ihrer Mama, die sich durchbogen bei dieser anstrengenden Arbeit, waren kräftig wie die Beine eines Pferdes im gestreckten Galopp. Ihr breiter Nacken sah aus, als sei er aus einem kunstvoll gedrechselten Holzstück gefertigt. Ihre nackte Brust, von Schweiß und Regen bedeckt, glänzte, als sei sie lackiert.
    Diese kolossale Frau ging noch immer entschlossen ihrer Arbeit nach, ohne zu bemerken, dass ihr etwas abhandengekommen war. Erst als July einen scharfen, durchdringenden Laut ausstieß, welcher das Zuckerrohr zum Rascheln brachte und die Vögel aufschreckte, hielt ihre Mama, die erhobene Machete in der Hand, plötzlich inne und wunderte sich über die Herkunft dieses
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