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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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verzweifelten Schreis. Da sah sie zum ersten Mal ihr an diesen unzureichenden Ort gefallenes Kind. Julys Mama reinigte die Schneide ihrer Machete und steckte sie in das Stück Tuch, das sie um die Hüfte geknotet hatte. Dann begann sie, mit einer Hand das Tuch zu lösen, das sie um den Kopf geschlungen hatte, während sie mit der anderen, zu einem Körbchen geformten Hand ihr Neugeborenes emporhob. Es dauerte nur einen flüchtigen Augenblick, bis July in das Kopftuch gewickelt war und sicher und warm am festen mütterlichen Rücken ruhte – während ihre Mama aus der Schärpe um ihre Hüfte wieder die Machete hervorzog und in ihrer Arbeit fortfuhr.
    Und damit endet die Geschichte von Julys Geburt – eine Geschichte, die spannender war als alles, was die schlagfertige Spinne Anancy herbeizaubern könnte. Wobei einige erzählten, es sei gar kein Regen auf den zarten Körper der neugeborenen July herabgeprasselt, vielmehr habe die heiße Sonne auf ihn herniedergebrannt, deren glühende Hitze das Blut der Nachgeburt auf ihrer nackten Haut zu einer harten, rauen Kruste gebacken habe. Dann wieder sei es ein Wind gewesen, der mit so heftigem Atem geblasen habe, dass die Mutter ihr Kind an
einem Bein festhalten musste, damit es nicht aus dem Zuckerrohrfeld übers Herrenhaus hinweg in die Wolken geweht wurde. Und wieder eine andere Fassung besagt, ein Tiger mit langer, spitzer Schnauze und sechs Beinen habe an der kleinen July herumgeschnüffelt, weil er sie für Nahrung gehalten habe. Doch ganz gleich, zu welchen glorreichen Höhenflügen ihre Lügengeschichte sich aufschwang, July bekannte sich stets dazu, auf einem Zuckerrohrfeld zur Welt gekommen zu sein.
    Dennoch, geneigter Leser, darf ich nicht zulassen, dass meine Erzählung durch solcherlei Ausschmückungen durcheinandergerät, denn sonst könntest du auf einer späteren Seite auf die Idee kommen, mich der Täuschung zu bezichtigen, gerade dann, wenn ich in Wahrheit von Tatsachen berichte, mag auch der Inhalt meiner Geschichte nicht weniger absonderlich erscheinen. Wenngleich du deine Erzählerin aufgrund der folgenden Schilderungen für eine Langweilerin halten könntest, so sind diese doch, ohne jede Fantasterei, die tatsächliche Wahrheit über Julys Entbindung in diese Welt – das kannst du mir glauben.
    Kitty, ihre Mama, gebar July in ihrer Wohnhütte. Acht lange Stunden wanderte Kitty in jener Hütte auf und ab – erst fünf Schritte in die eine Richtung, dann fünf Schritte in die andere. Die ganze Zeit über presste sie die Handflächen ins Kreuz, denn sie hatte Angst, ihr hervorstehender Bauch könnte die Kraft haben, sie holterdiepolter zu Boden zu werfen. Das grobe Leinenhemd, das sie trug, war so schweißdurchtränkt, dass es aussah, als sei es aus Gaze, und klebte eng wie eine Bandage an ihrem Körper. Hin und wieder hielt sie in ihren fieberhaften Schritten inne, stemmte hoch über ihrem Kopf die Hände gegen die Wand, verlagerte ihr Gewicht in die Arme und hechelte heftig wie ein tollwütiger Hund.
    Kittys Schweiß verwandelte den Boden unter ihren Füßen in eine schlüpfrige Schlammschicht. Deshalb bat Rose, die Frau, die ihr bei der Geburt behilflich war, Kitty, sich ein wenig zu
bücken, damit sie ihr mit einem Lappen Gesicht und Hals abwischen könne – denn Kitty war fast einen Meter dreiundachtzig groß und Rose nicht größer als einen Meter zweiundzwanzig. Als Rose noch im gebärfähigen Alter gewesen war, hatte sie selbst zwei Kinder zur Welt gebracht – eines war hart wie altbackenes Brot entbunden, das andere verkauft worden, noch ehe sie es richtig entwöhnt hatte. Aber sie war die bevorzugte Geburtshelferin auf der Plantage, denn Kinder, die mithilfe ihrer Kunst geboren wurden, gediehen mit einer Kraft wie sonst nur das verwöhnteste Kind einer weißen Missus. Doch Kitty wollte sich nicht bücken, um sich von Rose den Schweiß abwischen zu lassen. Um Kitty mit dem Tuch über die Stirn zu fahren, musste Rose schon in die Höhe springen wie eine schwächliche Haussklavin, der man befohlen hat, ein hohes Regalbrett abzustauben.
    Ebenso wenig wollte Kitty an dem Bündel Räucherstäbchen riechen, mit dem Rose herumwedelte. »Komm, das beruhigt. Riech dran«, verlangte Rose. Als Rose das duftende Bündel Kitty schließlich unter die Nase stieß, begann diese bei dem beißenden Geruch sogleich zu würgen. Da riss sie Rose die Räucherstäbchen aus der Hand und warf sie zu Boden. Der Streifen Ziegenfell, mit dem Rose Kittys zuckenden Bauch
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