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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte
Autoren: Cees Nooteboom
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I
    Meine eigene Person hat mich nie sonderlich interessiert, doch das hieß nicht, daß ich auf Wunsch einfach hätte aufhören können, über mich nachzudenken – leider nicht. Und an jenem Morgen hatte ich etwas zum Nachdenken, soviel ist sicher. Ein anderer würde es vielleicht als eine Sache von Leben und Tod bezeichnen, doch derlei große Worte kommen mir nicht über die Lippen, nicht einmal, wenn niemand zugegen ist, wie damals.
    Ich war mit dem lächerlichen Gefühl wach geworden, ich sei vielleicht tot, doch ob ich nun wirklich tot war oder tot gewesen war, oder nichts von alledem, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht feststellen. Der Tod, so hatte ich gelernt, war nichts, und wenn man tot war, auch das hatte ich gelernt, dann hörte jegliches Nachdenken auf. Das also traf nicht zu, denn sie waren noch da, Überlegungen, Gedanken, Erinnerungen. Und ich war noch da, wenig später sollte sich sogar herausstellen, daß ich gehen konnte, sehen, essen (den süßen Geschmack dieser aus Muttermilch und Honig zubereiteten Teigklöße, die die Portugiesen zum Frühstück essen, hatte ich noch Stunden danach im Mund). Ich konnte sogar mit richtigem Geld bezahlen. Und dieser Umstand war für mich der überzeugendste. Man wacht in einem Zimmer auf, in dem man nicht eingeschlafen ist, die eigene Brieftasche liegt, wie sich das gehört, auf einem Stuhl neben dem Bett. Daß ich in Portugal war, wußte ich bereits, wenngleich ich am Abend zuvor wie üblich in Amsterdam zu Bett gegangen war, aber daß sich portugiesisches Geld in meiner Brieftasche befinden würde, das hätte ich nicht erwartet. Das Zimmer selbst hatte ich auf Anhieb erkannt. Hier hatte sich schließlich eine der bedeutsamsten Episoden meines Lebens abgespielt, sofern in meinem Leben von derlei überhaupt die Rede sein konnte.
    Doch ich schweife ab. Aus meiner Zeit als Lehrer weiß ich, daß man alles mindestens zweimal erzählen muß und damit die Möglichkeit eröffnen, daß Ordnung sich einstellt, wo Chaos zu herrschen scheint. Ich kehre also zur ersten Stunde jenes Morgens zurück, dem Augenblick, in dem ich die Augen, die ich demnach noch besaß, aufschlug. »Wir werden spüren, wie es durch die Ritzen des Kausalgebäudes zieht«, hat jemand gesagt. Nun, an jenem Morgen zog es bei mir ganz gehörig, auch wenn mein Blick als erstes auf eine Decke mit mehreren äußerst stabilen, parallel zueinander verlaufenden Balken fiel, eine Konstruktion, die durch ihre funktionale Klarheit den Eindruck von Ruhe und Sicherheit erweckt, etwas, was jedes menschliche Wesen, und mag es noch so ausgeglichen sein, braucht, wenn es aus dem dunklen Reich des Schlafes zurückkehrt. Funktional waren diese Balken, weil sie mit ihrer Kraft das darüber liegende Stockwerk stützten, und klar war die Konstruktion wegen der völlig gleichbleibenden Abstände zwischen den Balken. Das hätte mich folglich beruhigen müssen, doch davon war keine Rede. Zum einen waren es nicht meine Balken, und zum anderen war von oben jenes für mich, in diesem Zimmer, so schmerzliche Geräusch menschlicher Lust zu hören. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder war es nicht mein Zimmer, oder es war nicht ich, und in diesem Fall waren es auch nicht meine Augen und Ohren, denn diese Balken waren nicht nur schmaler als die meines Schlafzimmers an der Keizersgracht, sondern dort wohnte auch niemand über mir, der mich mit seiner – oder ihrer – unsichtbaren Leidenschaft belästigen konnte. Ich blieb ganz still liegen, und sei es nur, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, meine Augen seien möglicherweise nicht meine Augen, was natürlich eine umständliche Art und Weise ist, zu sagen, daß ich totenstill dalag, weil ich tödliche Angst hatte, ich sei jemand anders. Dies ist das erste Mal, daß ich es zu erzählen versuche, und es fällt mir nicht leicht. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, denn wenn ich jemand anders war, dann wußte ich nicht, wie das vor sich gehen sollte. So ungefähr. Meine Augen, so nannte ich sie fürs erste weiter, sahen die Balken, die nicht meine Balken waren, und meine Ohren oder die jenes möglichen anderen hörten, wie das erotische Crescendo über mir mit der Sirene eines Krankenwagens draußen verschmolz, der auch nicht die richtigen Töne von sich gab.
    Ich befühlte meine Augen und merkte, daß ich sie dabei schloß. Die eigenen Augen wirklich befühlen ist nicht möglich, man schiebt immer erst den Schutz davor, der dafür gedacht ist, nur: Dann kann man natürlich
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