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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Autoren: Gunnar Cynybulk
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glaubt ihm die Sache mit dem Weg und dem Mut nicht. Der Ortskundige sagt: »Gib mir deine Schwester, und ich mach rüber und wieder nüber.« Die Wette gilt, und abends drauf hockt der tatsächlich im Herrgottswinkel des Gasthauses, vor sich ein Bier und eine Westzeitung desselben Tages. Leider hat die Schöne einen eigenen Kopf und ein loses Mundwerk, und leider wimmelt es in solchen Gegenden von Spitzeln. Nun sitzt der Grenzverletzer ein und wüsste gern einen Geheimweg. Zu dumm, dass man ihn nicht mehr befragen kann.
    Daraus folgt, dass Gastwirtschaften und Einheimische zu meiden sind. Ein Alibi wäre gut, zwei sind besser. Der Vater hat ein Pilzbuch, Beutel und Taschenmesser eingepackt, es ist wirklich Pilzzeit. Kann es etwas Schöneres geben, als bergauf und bergab durch endlose Wälder auf Pilzpirsch zu gehen? Und sei das Ergebnis auch manchmal mager, der Hauptwert liegt sowieso in dem Erlebnis der Pilzsuche selbst, in dem Dienst, den wir unserer physischen und psychischen Gesundheit leisten.
    Das zweite Alibi ist der Junge. Wer ein Kind in seiner Obhut hat, stellt keine Dummheiten an. Man muss sich natürlich auf das Kind verlassen können, es darf nichts Falsches sagen, sich nicht verplappern. Der Vater glaubt, dass er sich im Großen und Ganzen auf seinen Sohn verlassen kann. Auch wenn der auf der ganzen Fahrt kein einziges Wort mit ihm gesprochen hat in seiner Bockigkeit, und auch wenn er sich mit Volksarmisten einlassen würde.
    Man braucht also Alibis, aber was man am meisten braucht, ist Glück. Zum Beispiel darf man nicht von einer Polizeistreife im Hinterland angehalten werden. Nur so gelangt man in das Dorf, das direkt vor der Sperrzone liegt. Mit etwas Glück kennt man da jemanden, der es einem gestattet, das Auto in seiner Scheune zu verstecken, und der einem den Weg weist. Dessen Namen vergisst man am besten gleich wieder. Dann nimmt man die Alibisachen, verstaut zusätzlich die Kamera, das Fernglas, den Kompass und die Karte im Rucksack und geht mit dem Alibikind los. Schnurstracks geht man in den Wald, den deutschen Wald. Es sind fünf Kilometer bis zur Grenze. Ein Kinderspiel. Du, bist du wahnsinnig? Der Junge hat eine gute Kondition. Hätte er den Wettkampf heute Morgen bestritten, wäre er mit Sicherheit schnell erschöpft. So aber kommen die beiden gut voran: Frank und Jakob Friedrich. Das sind die Namen.
    Zuerst gehen sie durch einen Fichtenhochwald. Die nadellosen Äste laufen den Stamm hinauf wie Leitersprossen. Dann wird der Wald dichter, Buchen und Birken mischen sich unter die Fichten, die jetzt auch nicht mehr so groß sind. Auf dem Kamm der ersten Anhöhe stehen Tannen, deren Schwingen ihre Arme zerkratzen. In den Abhang, der folgt, stemmen sich junge Eichen, Buchen und Ulmen. Auf dem Laub vom Vorjahr rutschen Vater und Sohn hinab. Im Tal liegen bemooste Stämme, über die sie klettern müssen. In einer Senke haben sich Wildschweine gesuhlt, Frank Friedrich zeigt seinem Sohn die Abdrücke der gespaltenen Hufe. Als spazierten sie durch einen Wildpark. Keine Stiefelspuren.
    Das Klopfen eines Spechtes ist zu hören, während sie die nächste Steigung nehmen. Abgesehen vom Rasseln ihres Atems und ihrer Schritte ist es das einzige Geräusch. Kein Wind. Die Anhöhe geht in ein Plateau über. Ein Sturm hat Teile des Waldes zerdrückt, als habe sich ein großes Tier darauf niedergelassen. Geduckt schleichen sie durch das Bruchholz, bis sie eine Schonung erreichen. Sie sind Mattotaupa und Harka, der Kriegshäuptling und sein mutiger Sohn. Fährten lesend, streifen sie durch die Black Hills, erkunden die heiligen Berge ihrer Vorväter, auf der Hut vor den weißen Eindringlingen, den Goldsuchern. Ungesehen bleiben und dennoch alles sehen, darum geht es.
    Sie arbeiten sich durch eine Anpflanzung halbwüchsiger Tannen. Während sich Frank Friedrich darüber wundert, dass hier oben im Niemandsland aufgeforstet wird, stoßen sie auf einen Schotterweg, über dem Staub wirbelt. Sie halten den Atem an. Frank Friedrich blickt in alle Richtungen, lauscht. Er hört ein Donnern, es ist sein Herz: eine Seele und tausend. Über ihnen kreisen zwei Bussarde, ruhig und gleichmäßig. Auf sein Kommando rennen sie über den Weg und springen in ein neues Waldstück.
    Die Augen müssen sich erst an das Dunkel gewöhnen. Der neue Wald ist so dicht, dass er jeden Laut verschluckt. Am Boden Schachtelhalme und Farne, wie vor Millionen Jahren. Der einsilbige Wald ist in ihrem Kopf. Schlag. Baum. Blatt. Schuss. Bach.
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