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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Autoren: Gunnar Cynybulk
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sie die Lutscher aus und kommen: Grenzdurchbruchsversuch DDR - BRD im Sicherungsabschnitt Sowieso, Grenzregiment Sowieso, Meldeabschnitt Sowieso vom Soundsovielten, sichernde Einheit Sowieso. Grenzverletzer. Sperrelement. Angriff auf die Staatsgrenze. Freundwärts, feindwärts. Oben im Wachturm würde es sich regen. Sie würden ihre Schmuddelheftchen, ihre Karten, ihre Kreuzworträtsel wegschmeißen, mit deren Hilfe sie unerlaubt ihre Zeit totschlagen, und ihre Fassonköpfe aus den Fensterchen stecken, die rings um das Häuschen laufen, das auf der Betonsäule sitzt, selbst ihre Wachtürme sehen aus wie Datschen. Bei Nachtalarm würde einer auf das Dächlein klettern, gesichert von einer fipsigen Reling, und den Suchscheinwerfer anwerfen. Die Hunde würden anschlagen, das Krad würde aufheulen. So in etwa.
    Was ist drüben? Da, wo die Wege und die Tektonik in der Wanderkarte abbrechen und eine Grünfläche beginnt? Vor allem ist da Wald. Es folgen Weizenfelder, Äcker, eine Straße mit Leitplanken. Ein paar Meter tiefer im Westwald, man muss ganz genau hinsehen, hat jemand drei Holzkreuze aufgestellt, ein größeres und zwei kleinere. Sind das Blumenkränze? Hier wie da sagen die Leute grüß Gott. Das hat die Grenze nicht zerschnitten. Das meiste hat sie zerschnitten. Es gibt deutsch-deutsche Bäume, Zweiländereichen. Es gibt Doppeldörfer, oder besser gesagt halbierte Dörfer. Den einen wurde die Kirche genommen, den anderen der Friedhof. Das ist das, was die Grenze den Leuten hier gebracht hat, die Halbierung. Was hat sie dir gebracht? Es ist zu hören, dass es sehr schön dort sei. Der Himmel sei blauer und weiter. Hier ist es auch schön. Aber hier ist es nicht gut. So einfach ist das.
    Er erinnert sich an einen Tag im Frühling, er war wenig älter als Jakob. Bis zu diesem Tag war er ein Junge wie alle anderen. Er hatte zwei Brüder, einer war krank, einer grob, eine strenge Mutter, die distelschön war, er hatte zweckmäßige Kleidung und ein zweckmäßiges Leben, Kartoffeln und Quark. An jenem Frühjahrsmorgen stieg er auf sein Fahrrad, ein altes, schweres Damenrad mit glockenförmiger Lampe und einem breiten Sattel, dessen Sprungfedern quietschten, und er fuhr hinaus in die Welt. Er fuhr zu den letzten Häusern, über die Felder, zu dem kleinen Friedhof. Mit langem Bein trat er in die Pedale, die Kette rasselte durch das Kettenblech. Ziellos radelte er über die Feldwege und kreuzte seine eigene Spur, die auf der Erde ausgelegt war. Er hinterließ vier Schnüre, die er hätte aufnehmen können, um ein Seil daraus zu drehen. Er griff nach dem Fell der Weidenkätzchen, und in einem Wäldchen legte er sich in den betörenden Geruch des Bärlauchs. Er fuhr weiter und stieg erst wieder ab, als er die Feldsteinkirche in der Mitte des kleinen Dorfs erreicht hatte. Auf dem Vorplatz dösten die Autos, darunter (weiße Reifen, schimmerndes Chrom und Heckflossen wie Pflugscharen) die Westautos, ein halbes Dutzend. Er lehnte sein Fahrrad an die Feldsteinmauer. In der Kirche wurde gesungen. Dann spielte eine Orgel. Sie spielte für ihn. Die Pforte war geschmückt mit Osterglocken, Forsythienzweigen und blauen Bändern. Als er nach langem Zögern eintreten wollte, brach die Sonne die Wolken auf, und er sah seinen Schatten im Bogen des hellen Holzes. Als sich die Flügel der Pforte öffneten, zersprang sein Schatten, und die Orgelmusik traf ihn. Triumphal und klagend, in tiefen, trauernden Bassstößen und mit hellem Jubelklang. Es war Windmusik, die im Orgelbalg Atem schöpfte, der als Raunen durch das große Prinzipal ging und als Flötenspiel den kleinen Pfeifen entwich. Die Musik war ein Wesen mit einer und mit tausend Seelen. Er erkannte sie und verstand, wovon sie kündete. Sie war leicht und schwer zugleich, sie wusste vom grässlichsten Sterben und vom ewigen Leben, sie war Angst und Hoffnung. Sie war das Leben, und es war das Gegenteil dessen, was ihm bisher als das Leben verkauft worden war, Kartoffeln und Quark.
    Im Licht der Töne postierten sich zwei Mädchen links und rechts des Ausgangs, die Kollektebeutel mit weißen Armen haltend. Sie sahen ihn an, die eine dunkelhaarig, die andere blond, beide groß und schlank und in so feinen Kleidern, dass ihm schlagartig bewusst wurde, in kurzen Hosen und langen Strümpfen vor ihnen zu stehen. Er wich den herausströmenden Menschen aus, die mit frommen Gesichtern und aufwendigen Gesten Münzen und Scheine in die Beutel gaben. »Friede sei mit dir«, sagten die
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