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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Autoren: Gunnar Cynybulk
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Mädchen zu einem jeden. Ein großer, nach Rasierwasser riechender Mann drehte sich zur einen und zur anderen, während er einen Ring vom Finger schraubte. Er fragte, welche von ihnen die Schönste sei. Als beide schwiegen, schraubte er den Ring zurück an seinen Finger. »Friede sei mit dir«, sagte die Ältere und wandte sich einer eleganten Frau zu, die ihr gut sichtbar einen druckfrischen Geldschein hinhielt, auf dem das Holstentor abgebildet war. Das aber stand in Lübeck, und Lübeck war drüben, westwärts, seit Kurzem abgetrennt durch eine Mauer und undenkbar fern.
    »Ich bin, weiß Gott, nicht ohne Glauben«, sagte seine Mutter am Abend, als die Rede auf die Kirchgänger kam. Allerdings seien häufige Kirchbesuche schlecht, widernatürlich. Frank schwieg. Es ging doch nicht um den Gottesdienst. Etwas anderes war geschehen, er konnte nur nicht genau sagen, was. Er verstand nicht, wie alles zusammenhing. Die Orgel mit den Westautos, die Osterglocken mit dem Ring, das blonde Haar mit dem braunen, der Friede mit dem Geld. Vielleicht hing es auch gar nicht zusammen oder nur, weil er es war, der alles erlebt und gesehen hatte. Er wusste nur, dass er am Beginn einer Reise stand.
    »Papa, ich habe Hunger«, sagt sein Sohn. »Und außerdem ist da ein Reh.«
    Frank Friedrich setzt das Fernglas an. Er bedenkt alles, und dann vergisst er das Naheliegende. »Ich habe nichts dabei. Es tut mir leid.«
    »Dann was zu trinken?«
    »Leider nein.«
    Nach einer Weile fragt sein Sohn: »Wann kehren wir um?«
    Frank Friedrich stützt die Ellenbogen auf den Baumstamm und presst das Fernglas in seine Augenhöhlen. »Das ist unglaublich«, sagt er. Er schwenkt das Glas und fährt den Signalzaun ab, erst in südliche, dann in nördliche Richtung. »Das Reh und das Kitz sind drinnen«, sagt er, mehr zu sich als zu seinem Sohn. »Die müssen irgendwo durch den Zaun geschlüpft sein. Vielleicht gibt es ein Loch, einen Durchlass für das Wild.«
    »Wir kehren doch um?«, sagt der Junge.
    »Gib mir mal die Karte«, sagt Frank Friedrich.
    Sie tauschen Fernglas gegen Plan. Er nimmt den Kugelschreiber mit den drei Farben zur Hand und zeichnet eine rote Markierung in die Wanderkarte. Dann greift er die Kamera und schießt eine Bilderserie.
    Im Schulatlas des Jungen, VEB Hermann Haack, Geographisch-Kartographische Anstalt Gotha/Leipzig 1980, ist die Grenze tatsächlich durchlässig, eine Strichpunktlinie, als könne man zwischen Punkten und Strichen hindurchschlüpfen. Allerdings gilt das nur für die geologischen Karten. In den politischen ist die Grenze ein solider blassroter Strich. Auf den Schlussseiten des Atlas ist die ganze Erde im Maßstab eins zu achtzig Millionen abgebildet, es gibt nur das Braun der Gebirge, das Gelb der Wüsten, das Grün der Ebenen, das Weiß der Pole und das Blau der Ozeane. Moskau ist ein Punkt und Paris auch. Es gibt Oster- und Sandwichinseln, keine Grenzen. Wie würde er die Fotos erklären, wenn man ihn fasste, wie die Karte mit den Markierungen? Welche Ausrede, welches Alibi hielte er dafür parat? Es ist erschöpfend, für das ganze Leben eine Legende zu brauchen.
    Lächelnd betrachtet sein Sohn die Ricke und ihr Junges. Die Mutter äst, und das Kitz steht staksig neben ihr. Die Tiere sind von verschiedenem Braun. Das Fell des Jungen ist viel heller. Es ist sehr klein. Plötzlich hebt die Mutter den Kopf. Reglos steht sie da, witternd. Dann bricht sie aus und springt mit großen Sätzen davon, westwärts. Vielleicht ist es ein Westreh. Das Kleine folgt ihr mit kurzen Sprüngen, es schlägt die gleichen Haken wie die Mutter, nimmt denselben Weg. Nach dreißig Metern stürzt die Ricke. Sie sackt weg und taucht in das hohe Gras. Für einen Moment ist das Tier gar nicht zu sehen. Das Kitz erreicht die Stelle. Vergeblich versucht die Mutter, wieder auf die Beine zu kommen. Ihr heller Spiegel blinkt, sie streckt die Hinterläufe, aber die Vorderbeine knicken immer wieder ein. Es gibt keinen Ton für das, was da geschieht.
    »Papa«, sagt der Junge. »Irgendwas ist mit dem Reh.«
    »Wie?«
    »Das Reh steht nicht mehr auf.«
    Der Vater nimmt das Fernglas und muss die Tiere neu suchen. »Was ist passiert?«
    »Es ist einfach so hingefallen.«
    Frank Friedrich stützt die Ellenbogen wieder auf den Stamm. Er sieht das Kitz, die Ricke, das Gras. Schaut auf das Hundegeläuf, die Hunde schnüren. Er sieht zum Turm auf dem Berg. Die Fensteröffnungen sind verschattet, ein Lichtreflex blitzt auf.
    »Stolperdraht«, sagt
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