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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Autoren: Gunnar Cynybulk
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Lauf. Eine Ewigkeit tappen sie durch diesen schalltoten Raum, bis sie wie durch ein Wunder auf eine Lichtung treten.
    Schmetterlinge taumeln über weiße und gelbe Blüten, in der Mitte steht ein wimmelnder Ameisenhaufen. Ein Dutzend riesiger Insekten hievt einen schillernden Käfer zum Fuß der Pyramide. Am Rand der Lichtung, vor einer Birke, prahlt ein Steinpilz mit seiner Makellosigkeit. Frank und Jakob Friedrich gehen daran vorbei und kehren um. Ganz unten am weißen Stamm schneiden sie den prächtigen Pilz ab, wie es sich für ordentliche Pilzsucher gehört. Dabei sieht Frank Friedrich ein faustgroßes Papierknäuel, das im Dickicht hängt. Sein Sohn bringt ihm das Knäuel, eine zerknüllte Zeitungsseite. Mit spitzen Fingern entfaltet er das gilbe Papier. Es ist ein Neues Deutschland vom 27. Juli 1981. Die Schlagzeile auf der losen Seite, es ist die Seite 5, lautet: »Gegen Wettrüsten und Kriegsgefahr«. Verfasser: der Marschall der Sowjetunion Dmitri Ustinow, Minister für Verteidigung der UDSSR . Darunter sieben Kolonnen Blei aus der Prawda. Darüber zieht sich ein breiter schwarzbrauner Pinselstrich. Frank Friedrich muss lachen. Er lässt die Zeitung sinken und muss lachen, dass sich die Wipfel biegen. Sorgenvoll sieht sein Sohn ihn an. Tränen laufen über Vaters Gesicht, er schlägt sich auf die Schenkel, lässt das Blatt sinken und schüttelt den Kopf. Es dauert lange, bis er sich beruhigt hat. Schmierblatt eben. Grenzschützerscheiße auf dem Zentralorgan.
    Sie gehen weiter. Auf der Rückseite, der Seite 6, wird berichtet, dass die Sowjetunion den Tag der Seekriegsflotte beging. Einheiten aus der DDR und Polen waren in Leningrad zu Gast. Angesichts der komplizierten internationalen Lage erhöhen die sowjetischen Marinesoldaten beharrlich ihre Wachsamkeit und die Kampfbereitschaft der Truppenteile. Sagt ein gewisser Marschall der Sowjetunion. Was sonst noch geschah: Unwetter über Pakistan. Erdrutsch in der Schweiz. Waldbrände auf Teneriffa. In Westberlin bleibt jeder Zweite ohne Lehrstelle. Tankerunglück im Hamburger Hafen. Neonazis schänden Grabstätten in Köln.
    Nach zwei Stunden Fußmarsch sind sie am Ziel. Ohne Vorwarnung öffnet sich der Wald vor ihnen. Gebannt bleiben sie stehen. Eine breite saftiggrüne Schneise gräbt sich durch das Land. Diesseits wird sie gesäumt durch einen silbergrauen Faden, jenseits durch einen schwarzen. Südlich stürzt sie wie ein Wasserfall über eine Hügelkuppe, zum Norden hin verengt sie sich, mal ist nur der silbergraue Faden, mal bloß der schwarze zu sehen. Oben, am Fuß eines Turms, kippt die Schneise hinter den Horizont. Die Grenze ist tatsächlich schön. So was darf man doch nicht denken.
    Sie treten ein paar Schritte zurück, suchen den Schutz eines entwurzelten Baums, knien nieder, und Frank Friedrich holt das Fernglas aus dem Rucksack, es handelt sich um ein Opernglas mit Zeiss-Optik aus dem Erbe seiner Schwiegermutter. Der silbergraue Faden muss der Signalzaun sein, eigentlich ein metallenes Band, so anderthalb Manneslängen hoch. Weiter südlich, über eine Strecke von ein paar hundert Metern, ist er doppelt gefasst. In dem schmalen Korridor schnüren Hunde, zwei. Parallel zum Signalzaun verläuft ein zweispuriger Kolonnenweg, der den Zaun auf niedliche Weise begleitet. Daneben ein lehmfarbener Streifen, zehn Meter gepflügte und geharkte Erde, dahinter beginnt das Minenfeld. Eine spätsommerliche Wiese, auf der Büsche, Beerenhecken und ein einzelner Apfelbaum stehen, der rote Früchte trägt. Wer hat ihn gesät? Ein Soldat, der einen Apfel aß und den Butzen wegwarf, nachdem er die Minen im Boden vergraben hat? Auf dem zweiten Zaun, dem schwarzen Metallgitter am Ende des Feldes, sind Abweiser aus Stacheldraht angebracht. Sie zeigen nach Osten. Dann sind es noch ein paar Meter bis zum gegenüberliegenden Waldrand. Erst auf den zweiten Blick erkennt man die weißen Stecken mit den roten Kappen, die im Abstand von Steinwürfen die eigentliche Grenze markieren, Zündhölzer der Freiheit. Davor steht auf einem Hügelchen ein einsamer Hoheitspfahl, diagonales Schwarzrotgold. Sorge dich nicht, Junge, es sieht nur aus wie ein Marterpfahl und ist das Gegenteil.
    Wenn man das Fernglas scharf stellt, kann man sehen, dass feine Drähte vor die Metallgitter des silbergrauen Zauns gespannt sind, die über Isolatoren laufen. Ohm, der Widerstand, wie viel fließt da durch? Der geringste Kontakt löst in der nächstgelegenen Grenzkompanie Alarm aus. Dann spucken
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