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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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Heiligabend
    E s war Heiligabend, halb zehn. Vom Esszimmer, wo wir gerade das erste festliche Mahl der Feiertage zu uns genommen hatten, ging ich durch den Flur zum Wohnzimmer von Monk’s Piece, in dem meine Familie am Kamin saß, hielt inne und beschloss, kurz nach draußen zu gehen, wie ich es abends oft tue.
    Ich bin schon immer gerne im Dunkeln rausgegangen, um frische Luft zu schnappen, egal, ob sie lau war und nach den Blumen des Hochsommers duftete, oder beißend nach herbstlichen Feuern und verrottendem Laub roch, oder stechend kalt von Frost und Schnee war. Ich schaue auch gern zum Nachthimmel hinauf, ganz gleich, ob der Mond scheint und die Sterne glitzern oder die Schwärze des Himmels vollkommen ist. Ich liebe es, in die Dunkelheit vor dem Haus zu blicken. Ebenso gerne lausche ich den nächtlichen Rufen der Tiere, dem Heulen des auf- und abschwellenden Windes, dem Geräusch von Regentropfen in den Obstbäumen, und ich genieße es, wenn ein Windstoß vom flachen Weideland im Flusstal den Hang zu mir heraufeilt.
    Heute roch ich sofort – und es wurde mir gleich leichter ums Herz –, dass sich das Wetter änderte. Die ganze vergangene Woche hatte es geregnet, und Nebelschwaden hatten das Haus und die Gegend verhüllt. Vom Fenster aus konnte man nicht weiter als ein bis zwei Meter in den Garten sehen. Es war ungemütlich und trüb, als wollte es nie so richtig Tag werden. Da machte Spazierengehen keine Freude, zum Jagen war die Sicht zu schlecht, und die Hunde waren ständig schmutzig. Im Haus mussten den ganzen Tag die Lampen brennen, und die Wände der Vorratskammer, der Remise und des Kellers waren feucht und rochen muffig, die Feuer wollten nicht richtig brennen und qualmten.
    Seit vielen Jahren beeinflusst das Wetter meine Stimmung, und ich muss gestehen, ohne die Fröhlichkeit und Geschäftigkeit im Haus wäre ich niedergeschlagen und teilnahmslos gewesen. Ich hätte die Vorweihnachtszeit nicht genießen können und mich ununterbrochen über meine Empfindlichkeit und Wetterabhängigkeit geärgert. Aber da schlechtes Wetter Esmé erst recht reizt, etwas zu unternehmen, waren die Weihnachtsvorbereitungen in diesem Jahr noch umfangreicher und überschwenglicher als sonst.
    Ich trat aus dem Schatten des Hauses und sah mich im Mondlicht ein wenig um. Monk’s Piece steht auf einem Hügel, der sanft von dem Bach Nee ansteigt, der sich von Norden gen Süden durch diese fruchtbare, geschützte Gegend schlängelt. Unter uns dehnt sich Weideland aus, da und dort von kleinen Mischwäldern unterbrochen. Hinter dem Haus jedoch erstreckt sich eine völlig andere Gegend: mehrere Quadratkilometer Heideland, das von Dickicht durchzogen ist; ein Fleckchen Wildnis inmitten gut bewirtschaftetem Ackerland. Bis zur nächsten, gar nicht so kleinen Ortschaft sind es nur drei Kilometer, und elf bis zu einem größeren Ort. Und doch hat man hier das Gefühl, abgelegen und viel weiter von jeglicher Zivilisation entfernt zu sein.

    Ich sah Monk’s Piece zum ersten Mal an einem Hochsommernachmittag, als ich mit Mr. Bentley in seiner Kalesche unterwegs war. Mr. Bentley war damals noch mein Chef, aber inzwischen bin ich der Sozius der Anwaltsfirma, in der ich als junger Mann als Anwaltsgehilfe angefangen hatte (und bei der ich auch mein ganzes Arbeitsleben blieb). Er näherte sich zu jener Zeit dem Alter, in dem es ihm angebracht erschien, die Zügel der Verantwortung nach und nach aus seinen Händen in meine gleiten zu lassen, obwohl er auch weiterhin wenigstens einmal die Woche nach London in unsere Kanzlei kam, bis er schließlich mit zweiundachtzig Jahren starb. Er hatte das Landleben dem in der Stadt immer mehr vorgezogen. Nicht, dass er gern auf die Jagd ging oder angelte, aber er übernahm mit Freude Ehrenämter, machte den Schöffen, Kirchenvorsteher, Beirat und dies und das für alle möglichen Ausschüsse und Komitees. Ich war sowohl erleichtert wie erfreut gewesen, als er mich schließlich, nach so vielen Jahren, zum Sozius machte, fand aber auch, dass es mir zustand, weil ich wahrhaftig mehr als meinen Beitrag an schwerer Arbeit geleistet und einen großen Teil der Verantwortung bei der Leitung der Firma getragen hatte, mit keineswegs angemessener Entschädigung – zumindest nicht, was meine Position betraf.
    So kam es, dass ich an einem Sonntagnachmittag neben Mr. Bentley saß und den Blick über hohe Weißdornhecken auf die grüne, verschlafene Landschaft genoss, während er sein Pferd langsam zurück zu
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