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Exzession

Exzession

Titel: Exzession
Autoren: Ian Banks
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Vorwort
     
     
    Etwas mehr als einhundert Tage nach Beginn des vierzigsten Jahres
ihrer Schwangerschaft bekam Dajeil Gelian in ihrem einsamen, aufs
Meer hinausblickenden Turm Besuch von einem Awatara des großen
Schiffes, das ihre Heimat war.
    Weit draußen, zwischen den sich hebenden und senkenden
grauen Wellen, unter wabernden Nebelbänken, buckelten und
rutschten die großen trägen Körper einiger der
größeren Bewohner der kleinen See. Dampf puffte in
heftigen Stößen aus den Atemlöchern der Tiere und
stob wie gespenstische, körperlose Geysire zu der Vogelmeute
hinauf, die den Schwarm begleitete, was diese veranlaßte,
höherzusteigen und zu kreisen und zu kreischen, in der
kühlen Luft flatternd und sich zur Seite neigend. Hoch oben
bewegten sich noch weitere Geschöpfe, die in die rosaroten
Wolkenschichten hinein- und wieder heraushuschten, als seien auch sie
langsam ziehende kleine Wolken, und lenkbare Luftschiffe und
Flugdrachen kreuzten mit ausgebreiteten Flügeln und Fallklappen
in der oberen Atmosphäre und wärmten sich im
wässerigen Licht des neuen Tages.
    Das Licht kam von einer Linie, nicht von einem Punkt am Himmel,
denn der Ort, wo Dajeil Gelian lebte, war keine gewöhnliche
Welt. Der einzelne Streifen verschwommener weißer Glut begann
am fernen, seewärtigen Horizont, erstreckte sich über den
Himmel und verschwand über dem mit Blattwerk gesprenkelten Rand
der zweitausend Meter hohen Klippe, einen Kilometer hinter dem Strand
mit dem einsamen Turm. Im Laufe des Morgens würde die
Sonnenlinie dem Anschein nach vom Horizont nach Steuerbord
aufsteigen; am Mittag wäre sie direkt über dem Turm, und
bei Sonnenuntergang würde sie scheinbar im Meer verschwinden, um
in ihrem Hafen anzulegen. Jetzt war später Morgen, und die Linie
befand sich etwa auf halber Höhe am Himmel, wo sie einen
schimmernden Bogen über das Gewölbe beschrieb, wie ein
riesiges, sich langsam bewegendes Schiffstau, das sich beständig
über den Tag schwang.
    Zu beiden Seiten des Streifens aus gelbweißem Licht sah man
den jenseitigen Himmel – den echten Himmel; den Himmel über
den Wolken; eine massiv aussehende schwarzbraune
Über-Präsenz, die einen Hinweis gab auf die extremen Druck-
und Temperaturverhältnisse, die im Innern herrschten, und worin
sich andere Tiere in einer Wolkenlandschaft aus chemischen Substanzen
bewegten, die sich zu jener darunter vollkommen toxisch verhielt, die
jedoch in Farbe und Dichte die graue, windgekräuselte See
widerspiegelte.
    Gleichmäßige Wellenlinien brachen sich an dem grauen
Hang des Kiesstrandes, schlugen gegen zerschmetterte, zerriebene
Muschelschalen, winzige Bruchstücke hohler Tierschalen,
spröde Bretter lichtgebleichter Meereswracks,
wassergeglättete Holzbrocken, löcherige Schaumsteinchen wie
fleckiger Marmor aus porösem Gebein, und eine allgemeine
Mischung aus Strandgeröll, eingesammelt von einigen Hundert
verschiedenen Planeten, verstreut über die größere
Galaxis. Gischt spritzte dort auf, wo die Wellen an Land klatschten,
und wehte den salzigen Geruch des Meeres über den Strand und das
Gewirr dürrer Pflanzen an seine Ausläufer, über die
niedrige Steinmauer hinweg, die dem seewärtigen Garten des Turms
ein wenig Schutz bot, und brachte – indem es das gedrungene
Gebilde überwand und die hohe Wand dahinter hinaufkletterte
– den jodhaltigen Tang mit Unterbrechungen dazu, den Garten im
Innern zu umschließen, wo Dajeil Gelian gezüchtete
Teppiche leuchtender, breit wuchernder Blumen und raschelnder,
halbverkrüppelter Stachelbäume und schattenblühender
Wildbüsche pflegte.
    Die Frau hörte die landwärtige Torglocke klingeln,
wußte jedoch schon, daß sie Besuch bekam, weil der
schwarze Vogel Gravious es ihr verkündet hatte, als er ein paar
Minuten zuvor vom dunstigen Himmel herabgeflogen war, um ihr durch
eine zappelnde Sammlung von im Schnabel gehaltener Beute
›Gesellschaft!‹ zuzukreischen, bevor er mit schnellen
Flügelschlägen wieder davonpreschte, auf der Suche nach
weiteren luftfliegenden Insekten für seine winterliche
Speisekammer. Die Frau hatte der sich zurückziehenden Gestalt
des Vogels zugenickt, sich gereckt und dabei die Hände hinten in
die Hüften gestützt, um dann gedankenverloren den
angeschwollenen Bauch durch den üppigen Stoff des schweren
Kleides hindurch zu streicheln.
    Die von dem Vogel überbrachte Botschaft bedurfte keiner
weiteren Erläuterung; während der gesamten vier Jahrzehnte,
die sie hier allein gelebt hatte,
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