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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Autoren: Gunnar Cynybulk
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Türstock, wie viel er wieder gewachsen ist. Zwei Dutzend Striche ist er gewachsen. Meistens fühlt er sich größer, als es der Strich besagt. Sein Problem: der Größenwahn. Doch vielleicht hat er nur einen höheren Begriff von sich.
    Endlich hat er die Haltestelle erreicht. Als Einziger wartet er zu dieser frühen Stunde auf die Straßenbahn. Kurz schaut er auf den Apelstein, der an der Straßenecke steht und an die Napoleonschlacht erinnert: Korps, Bataillone und die Zahl der Kämpfenden. Oben sind die Himmelsrichtungen eingemeißelt, damit man immer weiß, wo Westen ist, nämlich da, wo die Sonne aufgeht. An der Litfaßsäule klebt ein Aufruf zur Wertstoffsammlung, einer zum Solidaritätsbasar, eine Einladung zum Liederabend und die Ankündigung eines Fußballpunktspiels, Chemie gegen Lok. Ein Klingeln ertönt, und um die Kurve biegt die Bimmel. Es ist keine der altmodischen Bahnen, die eierschalenfarben und kastig sind, sondern ein neuer tschechischer Triebwagen. Er ist der einzige Fahrgast. Die Bahn fährt durch die leere Vorstadt, vorbei an Häusern, von deren Fassaden der Putz gefallen ist. Wo der Putz noch hält, alte, geschwungene Worte: Sämereien, Gebr. Schmitzig, Kurzwaren. Und Maschinengewehre hatten hier auch was zu sagen. Zwischen die Häuser, über die schmalen Fußwege und schadhaften Straßen hinweg, sind die Oberleitungen gespannt, von denen die Trapeze der Bahnen den Strom holen. Auf jedem First ein Antennenwald, auf manchen Dächern Sirenenpilze. Wenn der Alarm anhebt, denkt man noch, er kommt aus dem eigenen Kopf, bis man weiß, was der schrille, rotierende Ton zu bedeuten hat, bestenfalls: unterrichtsfrei.
    Die Bahn rumpelt an der Leihbücherei vorbei. Das große Fenster zittert, als würde eine Bö das Wasser eines Sees kräuseln. Alle Indianerbücher hat der Junge ausgeliehen, die von Jules Verne auch (Anwalt soll er, Schiffsjunge will er werden). Die Leihkarten in den Büchern tragen blaue und rote Datumsstempel, manchmal liegen Jahre zwischen den Lesern, manchmal nur Wochen, und einmal lieh der Junge ein altes Buch aus, dessen erster Leser er war. Ein Lexikon muss er nicht ausleihen, das besitzt er, es ist ein Kinderlexikon. Vieles weiß er, Stichwort Die Atmung, Die Butter, Der Frieden (kostbarstes Gut auf Erden) oder Spartacus. Manches interessiert ihn nicht die Bohne, Stichwort Die Ellipse, Die Messe der Meister von morgen, Das Schaltjahr (soso, in zwei Jahren gibt es ein neues). Manches ist ihm neu oder deckt sich nicht mit dem, was er zu Hause hört, Stichwort Bundesrepublik Deutschland. Anderes, was ihn brennend interessiert, kommt gar nicht erst vor in diesem Lexikon: Stichwort Der Geschlechtsverkehr oder Rummenigge, Karl-Heinz.
    An der nächsten Station steigt ein Mädchen in schwarzem Rock und weißer Bluse zu, das einen Cellokoffer in die Bahn hievt. Sie geht in seine Klasse und tut so, als sehe sie ihn nicht. Sie zeigt ihm Rücken und Zopf. Im letzten Winter hat sie ihm leidgetan, weil ein Muff ihre Hände verschluckt hatte. Ihr Zopf fiel aus einer Fellmütze. Plötzlich kann er sich nicht mehr erinnern, ob sie schön oder wenigstens hübsch ist und ob sich ihre Brust schon wölbt. Er denkt sie sich schön und gewölbt. Er fragt sich, ob auch sie heute, am letzten Tag der großen Ferien, gegen ein Verbot verstößt.
    Als er am E-Werk aussteigt, bildet er sich ein, dass sie ihm nachblickt. Er ist gewachsen, sein Gang ist sehnig, aber er hat noch kein Haar am Sack. Irgendwo werden Kirchenglocken geläutet. Zur Kampfbahn muss er über einen morastigen Weg balancieren, der durch ein Erlenwäldchen führt. Bald muss er rennen, weil Fliegenwolken aufgezogen sind. Kreuzgefährlich ist das, er könnte ausrutschen. Hat er eine schwarze Wolke hinter sich gelassen, mit verschlossenem Mund und zusammengepressten Lidern, gerät er schon in die nächste, und wenn er dann die Augen öffnet und Atem holt, rasseln die winzigen Insekten in seinen Rachen und verkleben seine Wimpern.
    Olympiasieger will er werden, und zwar im Zehnkampf, dann wäre er der König der Athleten. Der Trainer denkt, dass er das Zeug zu einem Helden hat, er muss es wissen, schließlich hat er Landesmeister und sogar einen Junioreneuropameister trainiert. Seit der ersten Klasse ist der Junge bei ihm. Dem Vater wurde schriftlich mitgeteilt, dass der Sohn wettkampffähig und -willig sei, der Junge hat ihm den Brief gebracht, es sei zu seinem Besten und zum Wohl der Allgemeinheit, wenn er von jetzt an regelmäßig trainiere.
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