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Treibgut

Treibgut

Titel: Treibgut
Autoren: Maren Schwarz
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    Eisiger Nordwind fegte durch die Straßen von Stralsund. Der Himmel glich einem undurchdringlichen Grauschleier. Gewebt aus einer Farbe, die der Depression Vorschub leistete und sich auch in Elena Dierks Empfindungen spiegelte: Gestern hatte sich der Todestag ihrer kleinen Tochter Lea zum zweiten Mal gejährt.
    Die Erinnerung hatte sie den Bezug zur Realität verlieren lassen und sie hatte die Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis verbannt. Genauso wie die Existenz der Schwester, die soeben den Aufenthaltsraum betrat.
    Als das Deckenlicht anging, schreckte Elena auf und sah sich blinzelnd um. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, wo sie sich befand. Aus dem Fernseher drang Weihnachtsmusik. Bilder von fröhlichen und unbeschwerten Menschen flimmerten über die Mattscheibe. Strahlende Kinderaugen, aus denen die Vorfreude sprach und deren Anblick Elena in der Seele schmerzte. Seit dem Tod ihrer Tochter war Weihnachten für sie mit Einsamkeit und Selbstvorwürfen verbunden. Ein paar winzige Tränen stahlen sich aus ihren Augen. Ansonsten war ihr Blick genauso leer und ausdruckslos wie immer, verloren in stumpfem Brüten. Tagein, tagaus derselbe Ablauf. Ärzte und Schwestern, die sich um sie bemühten. Die nicht verstehen konnten, dass keine noch so gute Therapie ihr zurückgeben konnte, was sie verloren hatte. Sitzungen und Tabletten linderten zwar Schmerzen; helfen, sie zu heilen, konnten sie nicht. Sie durchdrangen noch nicht einmal die Mauer, die Elena in ihrer Trauer um sich errichtet hatte. Jenen Schutzwall, der aus Sprachlosigkeit bestand wegen der Dinge, für die es ohnehin keine Worte gab.
    Inzwischen hatte auf dem Bildschirm ein Kinderchor Aufstellung genommen. Von seinem Gesang begleitet, schwenkte die Kamera auf die am Straßenrand stehende Menge. Ein kleines Mädchen kam ins Blickfeld. Es hatte blond gelocktes Haar, das unter einer roten Kappe hervorquoll. Das Stupsnäschen gerötet von der Kälte, betrachtete es andächtig die glitzernde Weihnachtsdekoration.
    Für einen Augenblick starrte Elena wie paralysiert auf den Bildschirm. Dann löste sich ein markerschütternder Schrei aus ihrem Mund. Ihre weit aufgerissenen Augen hatten sich vor Erregung fast schwarz gefärbt. Aus ihnen sprach Ungläubigkeit.
    Eine Schwester eilte herbei, doch sie konnte Elena nicht daran hindern, aufzuspringen. Elena stieß unartikulierte Laute aus, stürmte zum Fernseher und hieb mit beiden Fäusten darauf ein.
    Der Lärm alarmierte zwei Pfleger. Sie schafften es, sie unter Kontrolle zu bringen. Kurz darauf betrat ein von der Schwester benachrichtigter Arzt den Raum. Doch Elena nahm weder ihn noch sonst einen der Anwesenden wahr. Sie starrte wie gebannt auf den Bildschirm, auf dem inzwischen ein Werbeblock lief: Deutschland im vorweihnachtlichem Kaufrausch.
    Ein Knopfdruck setzte dem Spuk ein Ende. Kaum war die Mattscheibe erloschen, brach Elena schluchzend zusammen. Der Arzt wies an, sie in ihr Zimmer zu bringen. Eine vorsorglich verabreichte Injektion ließ sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen.
     
    Als sie erwachte, begann draußen bereits ein neuer Morgen. Nur langsam lichtete sich der Nebel in ihrem Kopf und sie ließ den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren. Erneut stand das Bild des Kindes vor ihren Augen. Es erinnerte sie an eine Fotografie, die vor vielen Jahren von ihr aufgenommen worden war. Sie zeigte ein kleines Mädchen am Ostseestrand. Die honigblonden Locken vom Wind zerzaust, lächelte es glücklich in die Kamera. Auch wenn aus dem Mädchen von damals längst eine erwachsene Frau geworden war, konnte sie noch immer das Salzwasser auf ihrer Haut und den Sand unter ihren Fußsohlen spüren. Einen wehmütigen Moment lang musste Elena daran denken, wie unbeschwert das Leben doch sein konnte.
    Langsam kehrte ihr in weite Ferne gerichteter Blick in die Gegenwart zurück. Als er die Fensterscheibe streifte, hielt sie erschrocken inne: Sie war bestürzt darüber, in der gespenstisch bleichen Frau ihr eigenes Spiegelbild zu erkennen.
    Was war nur aus ihr geworden? Entlang ihrer Mundwinkel verliefen zwei tiefe Falten. Ihr von stumpfem Haar umrahmtes Gesicht sah verhärmt aus. Zum ersten Mal fiel Elena auf, wie schmal sie geworden war. Alles an ihr schien spitz und kantig. Die Schatten unter ihren tief liegenden Augen zeugten von zu wenig Schlaf. Voller Entschlossenheit klingelte sie nach der Schwester. Es lag Jahre zurück, dass sie sich einer Sache so sicher war.
    Kaum hatte diese das Zimmer
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