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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Autoren: Gunnar Cynybulk
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Ganzferne ist dann zum Greifen nah. Von weit her kommen sie, um Folienstreckanlagen auszustellen, und Nippon schickt drei Automatikautos. Stolz präsentiert das Außenhandelsunternehmen des Bruderlandes sozialistische Waren, die neuesten Erzeugnisse finden sich in Halle 3, auch die eckigsten Worte: Technoforestexport. Stolz sind auch die Einheimischen, mit offenen Armen empfangen sie die Handelsleute aus aller Welt. Sie reden so überdeutlich, in den Geschäften, in der Straßenbahn (die jetzt nicht mehr Bimmel heißt), dass man sie noch schlechter versteht. Aus Männern und Frauen werden für die Dauer einiger Tage Damen und Herren. Der Lehrer für Biologie und Englisch – eben ist er an seinem Haus vorbeigegangen – trägt ein Einstecktuch und ein schweres Eau de Toilette, und die Brunnen auf den Plätzen führen wieder Wasser. Am schönsten ist der Pusteblumen-Brunnen.
    Der Junge hat die einzige Telefonzelle weit und breit erreicht. Deren Scheiben sind gesprungen, und das Fernsprechbuch mit der Wählscheibe und dem großen schwarzen Hörer darauf ist zerfleddert. Drinnen und draußen stinkt die Zelle nach Pisse. Das liegt daran, dass sich gegenüber die einzige Kneipe weit und breit befindet. Der Junge denkt darüber nach, ob es jemanden gibt, den er anrufen sollte. Er fragt sich, ob er irgendetwas vergessen, nicht bedacht oder eingepackt hat, und dann ist es auch schon passiert: Er ist gestolpert und auf die Grenze getreten. Für einen kurzen Moment ist er unachtsam, und schon latscht er mitten auf die Fuge zwischen zwei Steinplatten. Lang bleibt er stehen, und nichts fällt ihm ein. Erst nach einer Ewigkeit kommt er darauf, dass es einen Trick gibt: Wenn man gestolpert ist, kann man umkehren und noch einmal über die Stelle laufen. Wenn man es richtig macht, ist der Bann gebrochen. Geh noch mal zurück, dann fällt’s dir wieder ein, sagt der Vater zur Großmutter, wenn die mitten in der Bewegung erstarrt und sagt: Was wollt ich jetzt gleich noch mal? Also kehrt er um und geht noch einmal an der Telefonzelle vorbei. Diesmal tritt er über die Grenze und kann weitergehen. Von nun an wird er aufmerksamer gehen.
    Der Konsum ist ein Bungalow mit einem langen Schaufenster. Darin stehen zwei hohe Pyramiden: Dosen mit weißen Bohnen, Dosen mit gelben Bohnen, wie auf der Kleinmesse beim Büchsenwurf. Gleich dahinter liegt der Blumenschuppen. Ein Holzverschlag, dessen Türen zur Verkaufszeit aufgeklappt sind. Im Frühjahr gibt es Primeln und Stiefmütterchen, und Ende April stehen die Kübel mit roten Nelken bis auf den Gehweg. Rosen gibt es so gut wie nie. Ab Oktober sind Fichten- oder Kiefernzweige, die die Großmutter Tannengrün nennt, im Angebot, um Gräber abzudecken oder Adventskränze zu flechten. Der Gärtner sagt zur Großmutter gnädige Frau, und wenn er lächelt, ist sein Gesicht entstellt. Man will dem Gärtner nicht zu nah kommen, er war im Lager. Unklar ist, ob bei den Nazis oder bei den Russen, die ja eigentlich Sowjets genannt werden müssen.
    Der Junge geht auf das weitläufige Oval hinter der Schule zu, auf dem er und seine Mitschüler die große Pause verbringen. Ein rostiger Zaun schirmt das Areal von der Straße ab. Entlang des Zauns stehen hohe Pappeln, große scheinheilige Schönheiten, die der Vater angepflanzt hat, als er selbst noch Schüler war. Im späten Frühling schneit es, dann ist der Pausenhof von Pappelschnee bedeckt, und manchmal bleibt eine Wolke an so einem hohen Baum hängen. Während der gesamten Pause darf man keinen Fuß auf den Grund setzen, zu keiner Zeit. Man muss auf einem der kniehohen Steinquader stehen, die zwischen den Bäumen liegen, und darf nicht runtersteigen, -fallen oder -gestoßen werden. Es ist ein Jungengesetz, dass man so die zwanzigminütige Pause zu verbringen hat: auf einem der Steine balancierend, die Hände lässig in den Hosentaschen versenkt. Alle Tage soll man so balancieren, ein Stück über dem Boden der Tatsachen, die Hände lässig in den Hosentaschen.
    Um wochentags zu dem kleinen Friedhof auf der anderen Straßenseite zu gelangen, muss man warten, bis die Autos eine Lücke lassen. Eine alte Frau kann ihr Fahrrad nicht so rasch über die viel befahrene Straße schieben. An ihrem Lenker baumelt eine Gießkanne aus Gummi oder Zink, Tannengrün oder Primeln liegen hinten im Korb, die kleine Hacke und die schwarzen Steckvasen mit dem dünnen Dorn sind hinterm Grabstein verborgen. Auf den Bänken sitzen andere alte Frauen in Schürzen und schwarzen
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