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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan
Autoren: Paul Auster
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ERSTES KAPITEL
     
    Es war der Sommer, in dem zum erstenmal Menschen den Mond betraten. Ich war damals noch sehr jung, glaubte aber an keinerlei Zukunft. Ich wollte gefährlich leben, bis an meine Grenzen vordringen und sehen, was mich dort erwartete. Wie sich herausstellte, ging ich daran fast zugrunde. Nach und nach sah ich mein Geld schwinden; ich verlor meine Wohnung; am Ende lebte ich auf der Straße. Ohne ein Mädchen namens Kitty Wu wäre ich wohl verhungert. Ich hatte sie erst kurz vorher zufällig kennengelernt, doch sehe ich in diesem Zufall im nachhinein eine Art Bereitschaft, mich durch den geistigen Einsatz anderer Leute retten zu lassen. Das war der erste Teil. Von da an stießen mir seltsame Dinge zu. Ich verdingte mich bei dem alten Mann im Rollstuhl. Ich fand heraus, wer mein Vater war. Ich wanderte durch die Wüste von Utah nach Kalifornien. Das ist natürlich lange her, aber ich erinnere mich gut an diese Zeit, sie ist der Anfang meines Lebens.
    Nach New York kam ich im Herbst 1965. Da war ich achtzehn; während der ersten neun Monate lebte ich in einem Studentenwohnheim. Auswärtige Erstsemester an der Columbia mußten auf dem Campus wohnen, aber gleich nach Abschluß des Semesters zog ich in ein Apartment in der West 112th Street. Dort lebte ich die nächsten drei Jahre bis zu dem Tag, an dem ich am Ende war. In Anbetracht meiner üblen Lage war es ein Wunder, daß ich mich dort überhaupt so lange gehalten habe.
    Ich teilte mir diese Wohnung mit über tausend Büchern. Sie hatten ursprünglich meinem Onkel Victor gehört, der sie im Lauf von etwa dreißig Jahren nach und nach gesammelt hatte. Kurz bevor ich aufs College ging, bot er sie mir spontan als Abschiedsgeschenk an. Ich sträubte mich nach Kräften, aber Onkel Victor war ein sentimentaler und großmütiger Mensch, er ließ sich nicht zurückweisen. «Geld kann ich dir nicht geben», sagte er, «und gute Ratschläge auch nicht. Nimm die Bücher, mir zuliebe.» Ich nahm sie, öffnete aber in den nächsten anderthalb Jahren keinen der Pappkartons, in die sie verpackt waren. Ich hatte vor, meinen Onkel zu überreden, die Bücher zurückzunehmen, und bis dahin sollten sie unversehrt bleiben.
    Die Kartons erwiesen sich dann als recht nützlich. Die Wohnung in der 112th Street war unmöbliert, und anstatt mein Geld für Dinge zu verschwenden, die ich nicht wollte und mir auch nicht leisten konnte, machte ich aus den Kartons etliche «imaginäre Möbelstücke». Das Ganze glich ein wenig einem Puzzlespiel: die Kartons in verschiedenen Anordnungen zu gruppieren, in Reihen aufzustellen, aufeinanderzustapeln, sie so lange umzubauen, bis sie schließlich Haushaltsgegenständen zu ähneln begannen. Sechzehn dienten als Gestell für meine Matratze, zwölf wurden zu einem Tisch, sieben bildeten einen Sessel, zwei einen Nachttisch und so weiter. Dieses trübe Hellbraun allenthalben wirkte freilich recht monochrom, doch konnte ich nicht umhin, auf meine Findigkeit stolz zu sein. Meine Freunde fanden es ein wenig seltsam, hatten jedoch inzwischen gelernt, bei mir mit Seltsamem zu rechnen. Bedenkt, wie befriedigend es ist, erklärte ich ihnen, wenn man ins Bett kriecht und weiß, daß man auf der amerikanischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts träumen wird. Stellt euch das Vergnügen vor, sich zum Essen hinzusetzen, und unter dem Teller lauert die komplette Renaissance. In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, welche Bücher in welchen Kisten waren, aber damals war ich ganz groß im Geschichtenerfinden, und mir gefiel der Klang solcher Sätze, auch wenn sie falsch waren.
    Meine imaginären Möbel blieben fast ein Jahr lang unangetastet. Dann aber starb im Frühjahr 1967 Onkel Victor. Sein Tod war ein schrecklicher Schlag für mich; in mancher Hinsicht war es der schlimmste Schlag, den ich je einstecken mußte. Onkel Victor war nicht nur der Mensch, den ich am meisten geliebt hatte, er war auch mein einziger Verwandter, meine einzige Verbindung zu etwas, das über mich selbst hinausging. Ohne ihn fühlte ich mich beraubt, vom Schicksal gezeichnet. Wäre ich auf seinen Tod irgendwie vorbereitet gewesen, hätte ich mich wohl leichter damit abfinden können. Doch wie bereitet man sich auf den Tod eines zweiundfünfzigjährigen Mannes vor, der zeitlebens bei guter Gesundheit gewesen ist? Mein Onkel fiel eines schönen Nachmittags Mitte April einfach tot um, und von da an änderte sich mein Leben, begann ich in eine andere Welt zu entgleiten.
    Von meiner
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